Frontex-Kinderbuch: Abschiebung als Abenteuer

Frontex-Broschüren zu Zwangsrückkehr sorgen für Kritik

Vor der Abschiebung werden Fingerabdrücke genommen und ein Gesichtsbild aufgenommen.
Vor der Abschiebung werden Fingerabdrücke genommen und ein Gesichtsbild aufgenommen.

Gemäß der zuletzt 2019 geänderten Frontex-Verordnung baut die EU-Grenzagentur ein »Rückkehrzentrum« auf, das die Mitgliedstaaten bei Abschiebungen unterstützen und – neben freiwilligen Rückführungen – eine stetig wachsende Zahl eigener Abschiebeflüge organisieren soll. Die Leitung des Zentrums obliegt dem ehemaligen deutschen Bundespolizisten Lars Gerdes, der zuvor in Afghanistan als Ausbilder tätig war und nun einer der drei Vizepräsident*innen von Frontex ist.

Wenn die EU immer mehr Abschiebungen selbst durchführt, sind auch immer mehr Kinder und Jugendliche davon betroffen. Unter dem Titel »Mein Leitfaden zur Rückkehr« hat Frontex deshalb 2023 eine mehrteilige Broschüre veröffentlicht, die Kinder, Jugendliche und unbegleitete Minderjährige in verschiedenen Sprachen auf die Zwangsmaßnahme vorbereiten soll und auch Eltern oder Begleitpersonen »Hinweise« gibt.

Am Ende der vermeintlichen Wissensvermittlung lädt die Broschüre Kinder und Jugendliche zum Ausmalen von Bildern, Rätseln und zu Poesiealbum-Einträgen ein. »Leider sind einige Dinge zu groß, um sie mitzunehmen, weshalb du sie zurücklassen musst. Mache vielleicht ein Foto von ihnen, um dich an sie zu erinnern, verkaufe sie oder gib sie einem Freund, der sich um sie kümmern wird«, heißt es.

Die Darstellung der »Einrichtung«, in die Kinder vor der Abschiebung gebracht werden, dürfte in den meisten Fällen nicht der Realität entsprechen. Beschrieben ist sie auch mit den Worten »Du und Deine Familie bleibt zusammen«.
Die Darstellung der »Einrichtung«, in die Kinder vor der Abschiebung gebracht werden, dürfte in den meisten Fällen nicht der Realität entsprechen. Beschrieben ist sie auch mit den Worten »Du und Deine Familie bleibt zusammen«.

Die insgesamt 169 Seiten umfassende Publikation war bis vor Kurzem weitgehend unbeachtet. Vergangene Woche wurde sie durch ein Posting des Hessischen Flüchtlingsrates auf der Plattform X bekannt. Im Internet sorgt sie für Empörung: Mit kindgerechter Sprache und bunten Bildern werde die Zwangsmaßnahme der Abschiebung verharmlost, lautet eine vielfach geäußerte Kritik.

Tatsächlich: Statt offen von »Abschiebung« zu sprechen, beschreibt die Broschüre euphemistisch, Kinder müssten nun »im Heimatland der Familie leben«. Auf diese »große Veränderung« könnten die Kleinen »gespannt« sein. Ein Bildchen einer Person mit Handschellen wird erklärt mit: »So sind er und die anderen sicher.« Die oft traumatisierenden Auswirkungen für die Betroffenen von erzwungenen Rückführungen kommen nicht vor. »Auch wenn Du lieber hierbleiben möchtest, geht das im Moment leider nicht«, heißt es in der Version für Kinder unter elf Jahren.

Interne Dokumente zeigen, dass die Publikation auch unter ihren Macher*innen vor der Veröffentlichung Gegenstand intensiver Diskussionen war. Über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhaltene Mailwechsel offenbaren, dass bereits während der Entstehung erhebliche Zweifel an der Angemessenheit und Wirkung der Broschüren bestanden – sowohl in gestalterischer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Mehrfach wurde moniert, dass zu viele Gesichter Angst, Schrecken oder Depression ausstrahlten, was der angeblich positiven Botschaft widersprach. Diese Illustrationen wurden anschließend geändert.

Bereits bei grundlegenden Begriffen gingen die Meinungen auseinander. Während einige Beteiligte forderten, Begriffe wie »Abschiebung« oder »Zwang« explizit zu benennen, hielten andere kindgerechte Umschreibungen für notwendig. Einige Beteiligte warnten vor einer »romantisierenden« Tonlage, eine andere Person bemerkte, die Atmosphäre sei »sehr düster und traurig« und würde bei Jugendlichen »eher Angst und Widerstand gegen den Rückkehrprozess hervorrufen«.

Interne Diskussion um die Darstellung von Frontex-Beamt*innen und Sicherheitsmaßnahmen.
Interne Diskussion um die Darstellung von Frontex-Beamt*innen und Sicherheitsmaßnahmen.

Besonders umstritten waren die dargestellten Sicherheitsmaßnahmen. Die Erwähnung von Handschellen und »Einrichtungen« führte zu intensiven Debatten zwischen Befürworter*innen von Offenheit und jenen, die vor möglicher Retraumatisierung warnten. Negativ aufgefallen war auch die Darstellung einer Person in Handschellen, die laut eines Reviewers »ein bisschen wie ein Terrorist« aussehe.

Die Broschüre suggeriert, Familien würden während der gesamten Abschiebung grundsätzlich zusammenbleiben. Eine Mitarbeiter*in notierte dazu: »In der Realität nicht immer möglich, wenn sich die Eltern oder ein Elternteil schlecht benehmen.« Auch bei der Darstellung von Sicherheitskontrollen und Durchsuchungen offenbarten sich verschiedene Meinungen.

Die internen E-Mails belegen auch Kritik an der Farbkodierung verschiedener Ethnien durch grelle, unrealistische Farben. Eine Person warnte: »Grün, knallrot, violett können negative/gegenteilige Konnotationen haben.« In der Broschüre für Jugendliche finden sie sich dennoch – sogar auf dem Cover. Ebenfalls wurde die violette Färbung eines Mannes in Handschellen hinterfragt – dies könnte als Darstellung der Folgen zu enger Fesseln verstanden werden.

Aus den Dokumenten geht nicht hervor, welche Abteilungen oder externen Mitarbeiter*innen von Frontex an der Produktion der Broschüren beteiligt waren. Sowohl Absender als auch Empfänger der Mailwechsel sind geschwärzt. Die Informationsfreiheitsanfrage, über die der Entstehungsprozess bekannt wurde, stammt von der in Deutschland lebenden Forscherin Kelly Bescherer. »Ich bin erstmals auf die Kinderliteratur von Frontex gestoßen, nachdem sie in einer ihrer Präsentationen erwähnt wurde, und war entsetzt«, erklärt sie auf nd-Anfrage. Sie bezeichnet die Broschüre als »zutiefst zynisch und eine Normalisierung von Gewalt«.

Zunächst hatte Frontex die Anfrage von Bescherer abgelehnt, da die begehrte Korrespondenz »detaillierte Informationen über den Modus Operandi von Strafverfolgungsbeamten bei Rückführungen und rückführungsbezogenen Aktivitäten« enthalte. Eine Offenlegung gefährde die Bemühungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, Drittstaatsangehörige, die von nationalen Rückführungsentscheidungen betroffen sind, außer Landes zu bringen, hieß es als Begründung. Diese Weigerung hielt Frontex auch nach einem Widerspruch aufrecht. Die Forscherin erhielt die Dokumente erst, nachdem die EU-Ombudsfrau den Fall geprüft und eingegriffen hatte.

In der Version für Jugendliche sind die Gesichter der Menschen in unrealistischen Farben und mit Afrohaar dargestellt.
In der Version für Jugendliche sind die Gesichter der Menschen in unrealistischen Farben und mit Afrohaar dargestellt.

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