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Die Gier der feinen Dame
Das Hörspiel »Die Giftfrau« ist ein seltener Fall im True-Crime-Genre, denn es geht um Täterinnen. Wie entstand die Idee dazu? Notizen des Autors
Bevor ich ein neues Hörspiel schreibe, gehe ich stets in eine Phase der Introspektion: Warum schreibe ich diesen Text? Also warum schon wieder ein Kriminalhörspiel? Weil ich über tatsächliche Fälle und tatsächliche Menschen schreibe – und weil ich seit Jahren mit allem Erfundenen fremdele, weshalb ich auch immer mehr Radiofeatures und immer weniger Prosa schreibe.
Und warum dieser Text, also ein Kriminalhörspiel über eine französische Giftmörderin? Weil ich bisher immer männliche Protagonisten meiner Kriminalhörspiele über historische Fälle hatte, zuletzt Fritz Haarmann in meinem Hörspiel »Vampir Haarmann«. Ich möchte somit gegen das Klischee anschreiben, dass Frauen die schlechteren Mörder sind.
Auf die französische Giftmörderin Marie Besnard bin ich durch Zufall aufmerksam geworden. Meine Recherche zu ihr verläuft nun eruptiv: Da Bücher zu ihrem Fall nur auf Französisch vorliegen und mein Schulfranzösisch nicht sehr belastbar ist, wird das Internet zu meiner Hauptrecherchequelle. In diese Welt tauche ich nun ein, und dort findet man zu Marie Besnard unzählige akribische Porträts auf den Webseiten von Krimi-Podcastern und -Nerds, historische Zeitungsartikel zu ihrem Fall aus deutschen, englischsprachigen, französischen Blättern, Filmaufnahmen in den deutschen und französischen nationalen Filmdatenbanken, Fotografien aus den drei Gerichtsprozessen gegen sie, sogar einen ganzen Groschenroman über ihren Fall.
Alle im Département Vienne und in ganz Frankreich reden nun von der »Giftfrau«, der »schwarzen Witwe von Loudun«, der »Königin der Giftmörder«.
Ich bringe anschließend den Fall in eine rohe Form, erzähle ihn einmal chronologisch geordnet herunter und reichere ihn mit ersten ästhetischen Ideen an. Zuvor arbeite ich mich noch in die spannende Materie der weiblichen Kriminalität und von Giftmorden ein. Dabei hilft mir die französische Kriminologin Catherine Ménabé, die in ihrem Paper »La violence des femmes judiciarisées«, 2021 in der »Revue québécoise de psychologie« erschienen, ausführlich untersucht, wie es um die Mordkompetenz von Frauen bestellt ist. Wie sie beschreibt, ist die Zahl verurteilter Gewalttäterinnen zwar geringer als die verurteilter Gewalttäter, ihr Anteil im Vergleich zu verurteilten Straftäterinnen gewaltfreier Delikte ist aber mit Männern identisch, und ihre Gewalttaten sind ebenso vielfältig: Sie umfassen Mord, vorsätzliche Gewalt und sogar sexuelle Gewalt.
Giftmorde sind besonders leise, akribisch geplante, sehr effiziente und heimtückische Morde, die sich durch die Geschichte der Menschheit ziehen – verübt von Männern wie von Frauen.
Léon und Marie Besnard, Bauern und Großrentner im Städtchen Loudun, im Herzen Frankreichs in der Nähe des Flusses Vienne gelegen, heiraten im August 1929. Als zwei Großtanten von Léon 1938 sterben, erben seine Eltern den größten Teil ihres stattlichen Vermögens, obwohl eine der beiden, Louise Lecomte, den Großneffen Léon noch kurz vor ihrem Tod großzügig in ihrem Testament bedachte. Interessanterweise findet man später Spuren von Arsen in Louises Körper. Für das junge Ehepaar ist diese Vermögensaufteilung eine Demütigung, lebt es doch im Gegensatz zu Léons Eltern in bescheidenen Verhältnissen.
Dann kommt es zu weiteren Todesfällen in ihrem Umfeld: 1939 stirbt ein Nachbar der Besnards, der Konditor Toussaint Rivet, und im Mai 1940 Maries Vater Pierre Davaillaud; und wieder stößt man später auf Spuren von Arsen in ihren Körpern. Im September 1940 ist plötzlich Léons Großmutter tot, nun ist er der Alleinerbe. Und kurz nachdem die Besnards in diesem Herbst Léons Eltern einladen, bei ihnen zu wohnen, stirbt auch sein Vater, angeblich durch das Verspeisen eines giftigen Pilzes. Das Ehepaar erbt weitere 227 000 Francs.
Drei Monate später ist schließlich auch Léons Mutter tot, wieder erben sie einen sechsstelligen Betrag, und die Nachbarn reden jetzt zum ersten Mal von einem Familienfluch. Das Erbe der Eltern ist logischerweise zwischen Léon und seiner Schwester Lucie aufgeteilt worden. Wenig überraschend stirbt die neuerdings so vermögende Lucie kurz darauf im März 1941. Sie wird auf dem Dachboden erhängt aufgefunden, was irgendwie nicht zu der gläubigen Katholikin zu passen scheint.
Ruhe kehrt danach nicht ein, schon im Mai 1941 kommt es zu den nächsten Giftmorden: Pauline und Virginie Lallerone, zwei Cousinen, die bei ihrer Verwandtschaft Zuflucht vor den deutschen Truppen gesucht haben, sterben im Abstand von nur einer Woche, nachdem sie Marie zur Alleinerbin gemacht haben. Beide, behauptet sie, haben versehentlich Bleichpulver verspeist. Der Geldbedarf des Ehepaars ist damit noch lange nicht gestillt: Blanche Rivet, die Ehefrau des vergifteten Konditors, die sie nach dessen Tod als Untermieterin in ihrem Haus aufgenommen hatten, scheidet im Dezember 1941 aus dem Leben, zuvor hatte sie den Besnards gegen eine kleine Rente ihr Haus überschrieben.
Als Marie, die kinderlos bleibt, sich 1947 in den ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen Alfred Dietz verliebt, der als Hilfsarbeiter in Léons Seilerei arbeitet, einen attraktiven Hamburger, den Marie liebevoll Ady nennt, wird noch im selben Jahr ihr eigener Ehemann zum nächsten Opfer der Giftfrau.
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Nun ist es allerdings zu spät für Marie, äußerte Léon doch kurz vor seinem Tod gegenüber Madame Pintou, der Posthalterin von Loudun, die furchtbare Vermutung, seine Frau könne ihn vergiftet haben. Nachdem sich Madame Pintou bei der Polizei gemeldet hat, kommt es zu einer Untersuchung der rätselhaften Todesfälle im Umfeld von Marie Besnard.
Während dieser Ermittlungen stirbt im Januar 1949 ihre Mutter, die seit neun Jahren im Haus der Besnards lebte, nur herrscht ja gerade eine Grippeepidemie in Loudun, weshalb der Arzt annimmt, die 87-Jährige sei eines natürlichen Todes gestorben. Diese Marie-Louise Davaillaud ist das 13. und letzte Opfer der Mordserie, die 1927 mit Auguste Antigny begann und bis 1949, mit Pausen von elf beziehungsweise sechs Jahren, zwölf weiteren Menschen das Leben kostete.
Alle im Département Vienne und in ganz Frankreich reden nun von der »Giftfrau«, der »schwarzen Witwe von Loudun«, der »Königin der Giftmörder« und – weil die Frau beim Prozess gegen sie immer mit einer schwarzen Spitzenmantille über Kopf und Schultern erscheint und sich sehr gewählt ausdrückt – von der »feinen Dame aus Loudun«.
Doch der erste Prozess gegen sie 1952 in Poitiers führt zu nichts: Es gibt keine Zeugen der Taten, beim Kauf des Arsens wurde Marie Besnard von niemandem gesehen, und keiner der Toten hatte vor dem Ableben typische Symptome einer Arsenvergiftung. Die Angeklagte, inzwischen sehr vermögend, hat außerdem gleich vier Verteidiger engagiert, darunter einen Staranwalt aus Paris, die erfolgreich Zweifel an der Richtigkeit der toxikologischen Gutachten säen – sie wird tatsächlich wegen keinem der Morde verurteilt.
1954 beim zweiten Prozess in Bordeaux das gleiche Bild: Das Gericht verlangt am Ende nur ein neues toxikologisches Gutachten und entlässt Marie bis zu einem dritten entscheidenden Prozess gegen eine Kaution von 1,2 Millionen Francs, die sie locker aufbringen kann, in die Freiheit.
Der dritte Prozess beginnt im November 1961, und man hat sogar den Atomphysiker Frédéric Joliot-Curie als Gutachter für die Staatsanwaltschaft bestellt. Er kann nachweisen, dass die Haare der Toten von Loudun tödliche Arsenmengen enthielten. Aber Staranwalt Gautrat schafft es mit seinen Kollegen erneut, dieses Gutachten zu diskreditieren. Neun Jahre nach Beginn des ersten Prozesses wird Marie Besnard im Dezember 1961 aus Mangel an Beweisen von der Anklage des zwölffachen Giftmords freigesprochen – in den Überresten von Léons Großmutter hatte man so wenig Arsen gefunden, dass es hier für eine Mordanklage nicht gereicht hatte.
Mein True-Crime-Hörspiel »Die Giftfrau« erzählt diese bizarre Mordserie, einen der berühmtesten Kriminalfälle Frankreichs, mit radiofonen Mitteln und ergründet anhand der titelgebenden Giftfrau Marie Besnard die Psyche einer weiblichen Täterfigur. Und es zeichnet das Sittenbild eines bäuerlichen Frankreichs, in dem Tradition, komplexe Erbverhältnisse, Landwirtschaft, Handwerk, dörfliches Leben, Wein, Essen und Klatsch den Alltag bestimmen und das eben erst die Schrecken des Zweiten Weltkriegs abzuschütteln beginnt. Bis heute gehört die Besnard zu den bekanntesten Serienmördern weltweit.
Ausstrahlung »Die Giftfrau«: 21. Juni, 19.04 Uhr, SWR Kultur; verfügbar auch in der ARD-Audiothek.
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