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Bedrohter »Unterschlupf« in Kreuzberg: »Mehr als nur ein Raum«
Der »Unterschlupf«, ein Tagestreff für wohnungslose Frauen in Kreuzberg, ist gefährdet.
Kurz verhaspelt sie sich. »Ich kann das nicht«, sagt sie. Aber schnell wird klar: Sie kann es. Rebecca, die eigentlich anders heißt, spricht vor zig Menschen ins Mikrofon – in der sengenden Nachmittagssonne auf dem Lausitzer Platz in Kreuzberg. Hinter ihr ein großes, lilafarbenes Transparent: »Hilfe! Wir müssen hier raus«. Rebecca kommt regelmäßig in den »Unterschlupf«, einen Tagestreff in der Wrangelstraße, nur ein paar Minuten zu Fuß von hier. Frauen in der Obdachlosigkeit können dort duschen, essen, waschen, sich ausruhen. Doch die Lage ist prekär. Das Projekt droht, selbst obdachlos zu werden, da der Mietvertrag ausläuft. Der »Unterschlupf« sei ein Rückzugsort, sagt Rebecca auf der Bühne. »Er ist mehr als nur ein Raum, er ist ein Zuhause.«
Viele Besucherinnen des Unterschlupfs wissen, wie es ist, ein Zuhause zu verlieren. Das Projekt ist offen für alle FLINTA*-Personen, darunter auch Transfrauen, die es anderswo häufig schwer haben. Insgesamt kommen etwa 40 Gästinnen pro Tag, zwischen 18 und 70 Jahren. Viele seien drogenabhängig, aber die meisten nicht, sagt Marit Heinisch, die im »Unterschlupf« arbeitet. »Es sind einfach Frauen, die aus dem Leben gerissen wurden, weil sie ihre Wohnung oder den Job verloren haben und nicht mehr auf die Füße gekommen sind.«
Gegründet wurde das Projekt Anfang 2023 von Betti, einer Kreuzberger Köchin, Hausbesetzerin, Feministin. Im Februar starb die Frau mit Anfang 60 unerwartet. Auf der Kundgebung am Lausitzer Platz wird ihrer gedacht. »Sie war Punkerin, ihr ganzes Leben. Sie hat sich stets verletzlich, aber mutig gezeigt«, sagt Lena Siever, die seit anderthalb Jahren im »Unterschlupf« aktiv ist. Sie erinnert daran, dass Betti oft geweint hat – auch aus Freude. Dann zum Beispiel, wenn Frauen in Unterwäsche durch den Garten liefen und sich Gurkenscheiben auf die Augen legten. Dann, wenn ihre Vision vom solidarischen Ort für Frauen greifbar wurde.
Rebecca wird nach ihrer Rede beglückwünscht und umarmt. Viele Gästinnen sind an diesem Donnerstag Mitte Juni zur Kundgebung gekommen. Sie sitzen zwischen anderen Zuschauer*innen, im Schatten unter Bäumen. Einige haben Plakate gebastelt: »Platz für alle« und »Der Kiez hat Eigenbedarf«. Sie sei stolz, sagt Marit Heinisch. »Meiner Erfahrung nach ist es schwer, nach außen zu gehen. Viele möchten nicht, dass irgendjemand weiß, dass sie wohnungslos sind.«
Den wenigsten Gästinnen im Unterschlupf ist ihre prekäre Lage anzusehen. Sie bleiben unsichtbar. Als Mensch gesehen zu werden, ist ein wichtiges Thema. So erzählt es auch Jutta. Die Frau Ende 60 ist seit Kurzem obdachlos. Mit selbstbewusster Haltung geht sie zum Mikrofon, erzählt vom frisch gekochten Mittagessen im »Unterschlupf«. »Wir dürfen Gemüse schnippeln. Dadurch werden wir wahrgenommen, wir werden gebraucht.« Gerade als ältere Frau werde man häufig behandelt wie Luft.
Im vergangenen Winter betrug der Anteil von Frauen, die Notübernachtungen der Kältehilfe nutzten, knapp 27 Prozent, teilt der Senat auf Anfrage von »nd« mit. Im Sommer gibt es weniger Schlafplätze als im Winter. Zwar sei die Lage in Berlin besser als anderswo, aber es gebe trotzdem zu wenige Angebote für obdachlose Frauen, sagt Heinisch. Der »Unterschlupf« will ihnen einen sicheren Ort bieten. »Klar bedrohen sie sich auch mal gegenseitig, aber vor Männern sind sie sicher. Das ist wichtig, denn von denen, die ich hier mitkriege, haben die meisten traumatische Erfahrungen mit Gewalt von Männern gemacht.«
Oft kommen Frauen morgens völlig übermüdet im »Unterschlupf« an. Auf der Straße müssen sie wachsam sein, auch in Unterkünften bekommen sie oft wenig Schlaf und erleben unangenehme Situationen. Die Mitarbeiterinnen unterstützen sie dabei, Schlafplätze zu finden und Anträge auszufüllen. Mit einigen Frauen arbeite sie seit Jahren zusammen, sagt Heinisch. Manchmal gehe es vorwärts und manchmal wieder rückwärts. »Es ist hart zu erkennen, dass es Grenzen gibt. Wir können niemanden retten. Wir können es nur ein bisschen besser machen.«
Die ungewisse Situation des »Unterschlupfs« mache es nicht leichter, Stabilität zu vermitteln. Täglich stelle sich die Frage, wie viel in einen Ort investiert werden soll, den man möglicherweise bald verlassen muss. Die Dusche schimmelt, die Elektrik ist marode. Natürlich wirke sich die Lage auf die Gästinnen aus, sagt Sarah, die eigentlich anders heißt. »Das zehrt an den Nerven. Es macht uns nervös.« Auch sie kommt zum Protest, sitzt am Rand im Schatten, der Kreislauf. Sie wolle, dass der »Unterschlupf« bleibt – als Schutzraum. »Auf der Straße wird man als Frau als Freiwild angesehen.«
Die Räume in der Wrangelstraße, vermietet von der Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg, waren von Anfang an als Zwischenlösung gedacht. Schon lange war geplant, das Gebäude abzureißen und ein Wohnhaus zu errichten. Seit seiner Gründung sucht der Unterschlupf nach Räumen. Die meisten Vermieter*innen lehnten jedoch bereits ab, wenn sie von der Klientel erführen, sagt Heinisch. Anderes sei einfach zu teuer. Politiker*innen kamen zu Besuch, es gab viel Zuspruch. »Alle finden das Projekt toll, aber bisher konnte niemand helfen«, erzählt »Unterschlupf«-Mitarbeiterin Karin Hartmann. Ein paar Angebote gab es, unter anderem auf Vermittlung des ehemaligen Kreuzberger Sozialstadtrats Oliver Nöll (vormals Linke, jetzt SPD). Bisher war jedoch nichts Passendes dabei.
Finanziert wird der »Unterschlupf« vor allem von einem privaten Großspender, hinzu kommen kleinere Spenden. 2023 gab es eine Förderung vom Bezirk, 2024 im Rahmen der Hitzehilfe Gelder vom Senat. 2025 geht das Projekt leer aus. Im vergangenen Jahr konnten die Gelder der Hitzehilfe durch nicht verwendete Mittel aus anderen Bereichen aufgestockt werden, heißt es dazu auf Anfrage von »nd« aus dem Senat.
Da sich der Abriss in der Wrangelstraße verzögerte, erhielt der Unterschlupf immer wieder Verlängerungen – zuletzt bis Ende Juni, dann mündlich bis September. Die Zusagen seien jedoch zu spät gekommen, Vertreter*innen der Kirchengemeinde seien schwer erreichbar, der Informationsfluss zäh, sagt Heinisch. Im Unterschlupf wuchs die Existenzangst, es gründete sich ein Kampagnenteam. Ende Mai wurde eine Petition gestartet, in der gefordert wird, dass das Projekt bis zum Abriss im Gebäude bleiben darf und die Kirchengemeinde danach alternative Räumlichkeiten zur Verfügung stellt.
Insgesamt kommen etwa 40 Gästinnen pro Tag, zwischen 18 und 70 Jahren.
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Die Evangelische Kirchengemeinde Kreuzberg kritisiert den scharfen Ton als »populistische Stimmungsmache«. Durch die Petition sei das Vertrauensverhältnis erschüttert worden, teilt Martin Fiebig, Vorsitzender des Gemeindekirchenrates, mit. »Alle wesentlichen Aussagen der Petition sind unzutreffend.«
Nach Gesprächen zwischen »Unterschlupf« und Kirchengemeinde wird die Petition, die Mitte Juni bereits mehr als 10 000 Unterschriften hat, abgeändert. Der »Unterschlupf« dürfe bis zum tatsächlichen Abriss bleiben, heißt es. Auch alternative Räumlichkeiten werden ins Gespräch gebracht. Martin Fiebig unterstreicht, dass dies trotz, nicht wegen der Petition geschehe. »Wie bisher ist uns der Erhalt der Arbeit des ›Unterschlupfes‹ eine Herzenssache und dazu stehen wir.« Auf der Kundgebung feiert das »Unterschlupf«-Team die Neuigkeiten als Erfolg. Eine Ehrenamtliche dankt für die Unterschriften. »Das hat uns mega überwältigt.«
Knapp eine Woche später wird es konkret. Die Abmachung: Der »Unterschlupf« nimmt die Petition aus dem Netz. Dann ist laut der Kirchengemeinde der Weg frei für eine Besichtigung potenzieller Räume in der Oranienstraße. Der Mietvertrag für die Wrangelstraße werde entfristet und mit einer dreimonatigen Kündigungsfrist abgesichert. Wann abgerissen wird, stehe noch nicht fest, teilt Martin Fiebig mit.
Ob die alternativen Räumlichkeiten passen würden, ist derzeit noch ungewiss. Aber es könnte eine Option sein, das Projekt weiterzuführen, dessen Betrieb von etwa 30 Ehrenamtlichen und wenigen festen Mitarbeiterinnen gestemmt wird. Das ist nicht immer leicht. Oft ist es hektisch, emotional aufwühlend. »Ein paar Mal habe ich darüber nachgedacht, etwas anderes zu machen«, sagt Heinisch. Aber es motiviere sie, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der sich Frauen sicher fühlten. »Sie sehen hier, dass sie genauso sind wie du und ich. Es unterscheidet uns gar nichts – außer dass sie keine Wohnung haben.«
Inga Dreyer arbeitet ehrenamtlich beim »Unterschlupf«.
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