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»Die Barbaren« im Kino: Geflüchtete zweiter Wahl

In Julie Delpys Film »Die Barbaren« landet eine syrische Familie in der Bretagne

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Begrüßt wird die syrische Familie Fayad mit einer Wandschmiererei an ihrem neuen Zuhause: »Barbaren raus!«
Begrüßt wird die syrische Familie Fayad mit einer Wandschmiererei an ihrem neuen Zuhause: »Barbaren raus!«

Das große Dorf, die kleine Stadt, die Provinzgemeinde, da redet man sich gerne ein, hier sei die Welt, vor der man insgeheim Angst hat und die schön draußen bleiben soll, doch noch voll in Ordnung. Paimpont in der halbwegs pittoresken Bretagne hat nicht sonderlich viele Einwohner, kann aber eine beträchtliche Prozentzahl Arbeitsloser, Alkoholiker und Depressiver vorweisen. Das behauptet zumindest die engagierte Lehrerin Joelle im Film »Die Barbaren«, der rund zehn Monate nach dem Kinostart in Frankreich in die deutschen Lichtspielhäuser kommt. Joelle wird gespielt von Julie Delpy, die auch Regie geführt hat.

Eigentlich hatte man sich für ukrainische Geflüchtete beworben, die sind aber »sehr gefragt auf dem Flüchtlingsmarkt«, so der Bürgermeister und Sägewerkbesitzer Sébastien (Jean-Charles Clichet), weshalb die Bretonen mit der syrischen Familie Fayad vorliebnehmen müssen. Schnell ersetzt man das Selenskyi-Porträt in ihrer Unterkunft durch ein Gemälde einer Meerjungfrau. Zu allem Überfluss gingen die Fayads in Damaskus Berufen nach, die in Paimpont nicht praktiziert werden: Vater Marwan (Ziad Bakri) ist Architekt, seine Schwester Alma (Rita Hayek), die ein Bein im Krieg verloren hat, Ärztin, seine Frau Louna (Dalia Naous) ist gelernte Grafik-Designerin, Opa Hassan (Helou Fares) Dichter. Und dann gibt’s noch den stillen Sohn Wael und Tochter Dina, in die sich an der Bushaltestelle sofort die Dorfjugend verliebt.

Das stumpfe Klischee vom »Clash of Cultures« entpuppt sich als »Clash of Qualifications«. Die Fayads können Englisch und halbwegs Französisch, die Frauen sind nicht verschleiert, sodass der schmierige Ladenbesitzer Philippe (Mathieu Demy) sich dazu veranlasst fühlt, gegenüber seiner heimlich trinkenden Frau Anne (Sandrine Kiberlain) festzustellen: »Die Syrer sehen aus wie Zigeuner.« Das kann ja heiter werden. Begrüßt wird die syrische Familie mit einer Wandschmiererei an ihrem neuen Zuhause: »Barbaren raus!« Barbaren sind bekanntlich alle, die nicht so gut Griechisch sprechen. Die Ankunft der Fremden aus dem Kriegsgebiet bringt die stille Gemeinde aber nach und nach dazu, ihre verschwiegenen, unterdrückten Konflikte aufbrechen zu lassen. Die depressive Pittoreske bröckelt.

Eigentlich hatte man sich für ukrainische Geflüchtete beworben, die sind aber »sehr gefragt auf dem Flüchtlingsmarkt«, weshalb die Bretonen mit der syrischen Familie Fayad vorliebnehmen müssen.

In der ersten Hälfte des Films, der abendländisch-kulturgüterisch in Akte unterteilt ist, begleitet ein Kamera-Team das Integrationsvorhaben, sodass die Beteiligten stets darum bemüht sind, ein gutes Bild abzugeben. Die Handlung wird über Interviews, inszenierte Besuche erzählt. Jede kleine Störung der vorbildlichen Weltoffenheit kann so schließlich herausgeschnitten werden. Der Sender hat aber irgendwann kein Interesse mehr an den Fayads und Paimpont, sie alle sind schließlich nur eine Vorabend-Story, man hat noch andere in petto. Die Lage spitzt sich zu, nachdem der Kommunist, Impf-Gegner und Bio-Bauer Yves (Albert Delpy) den Fayads sein kleines Bauernhaus geschenkt hat, damit es nicht die Bank kriegt und weil sich Louna bei ihm um die Artischocken kümmert.

Dem Klempner Hervé (Lauren Lafitte) sind die Fremden von Anfang an ein Dorn im Auge, weil es ihm seiner Meinung nach schlecht beziehungsweise nicht gut genug geht, denn er ist sehr, sehr tüchtig und von hier. Online findet er in Verschwörungstheorien den Halt, den seine Lebenswelt nicht mehr hergibt. Für die Volksnähe-Faker von der Identitären Bewegung ist sein Frust ein gefundenes Fressen. Was folgt, ist ein kaputtes Rohr, ein kaputtes Haus, eine kaputte Ehe, eine gebrochene Nase und eine schwere Geburt am Strand.

»Die Barbaren« ist trotz der Fluchtgeschichte der Fayads ein eher leichter Film mit Happy End, der größtenteils als Komödie funktioniert. Doch es gelingt Julie Delpy, die in erster Linie als Schauspielerin bekannt wurde, aber seit fast 20 Jahren selbst Filme dreht und als Drehbuchautorin für den Oscar nominiert war, ernste Fragen auf die Leinwand zu bringen: Welche Probleme ergeben sich, wenn einander Fremde aufeinander angewiesen sind, ohne mit sich selbst im Reinen zu sein? Wie kann ein warmherziger Wille entstehen, eine Gemeinde als Gemeinschaft zu gestalten, wenn das Einzige, was sie zusammenhält, darin liegt, dass man nie weg ist? Was ist verwerflich an dem Wunsch, gebraucht zu werden?

Sicherlich gab es viel erschütterndere Fluchtgeschichten im Kino über die vergangenen Jahre, aber ganz beiläufig bietet »Die Barbaren« eine Kritik am Geschäft mit der Flucht, dem instrumentellen Verhältnis zu Hilfsbedürftigen. Der Film zeigt auch, wie Menschen, die verlernten, sich etwas zu sagen zu haben, sich hinter politischer Floskelsprache verstecken, die ihrer ganzen Erscheinung und Güte widerspricht. Insgesamt also: pädagogisch wertvoll.

»Die Barbaren – Willkommen in der Bretagne«: Frankreich 2024. Regie und Buch: Julie Delpy. Mit: Julie Delpy, Sandrine Kiberlain, Laurent Lafitte, Ziad Bakri. 104 Min. Kinostart: 26. Juni.

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