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Wohngebühren für Geflüchtete: 763 Euro für ein Stockbett
Der Flüchtlingsrat kritisiert, dass der Senat staatliche Aufgaben auf Geflüchtete abwälzt
Ellenlange Wortungetüme, Schachtelsätze und kryptische Abkürzungen, so könnte man die Jahrhunderte alte Kritik am Verwaltungsdeutsch zusammenfassen. Zugänglicher ist die Fachsprache nicht geworden, dafür erweitert sich stets der Personenkreis, der sich unfreiwillig mit ihr herumschlagen muss – mit realen Konsequenzen für Geflüchtete in Berlin. Denn diese müssen sich jetzt noch eingehender mit der Unterbringungsgebührenverordnung (UntGebO) und dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) auseinandersetzen als ohnehin schon.
In Berlin gilt: Geflüchtete, die in öffentlichen Unterkünften unterkommen, müssen für ihre Unterbringung bezahlen. Dafür werden monatlich pauschal 763 Euro pro Person veranschlagt, ein ermäßigter Satz bis 305 Euro ist möglich. Bei Menschen ohne Beschäftigung oder Leistungsbezieher*innen übernehmen Bezirk oder Jobcenter. Menschen mit Einkommen oder Bürgergeldbezieher*innen müssen selbst aufkommen. Neu aber ist seit diesem Jahr, dass alle Bewohner*innen die Erstattung dieser Kosten auch selbst organisieren müssen. Und zwar unabhängig davon, wie lange sie schon in Deutschland sind oder wie sehr sie mit der deutschen Sprache und dem überaus komplexen Verwaltungsapparat in Berlin vertraut sind. De facto bedeutet das: Zur Kasse gebeten werden grundsätzlich erst einmal alle mit dem Regelsatz. Wenn Jobcenter oder der Bezirk für die Übernahme der Gebühren verantwortlich sind, müssen innerhalb bestimmter Fristen Anträge gestellt und Nachweise erbracht werden. Dasselbe gilt für einen Antrag auf einen ermäßigten Satz. Wer das nicht hinbekommt, hat Pech.
Für den Flüchtlingsrat Berlin ist das gleichbedeutend mit einer Abwälzung eigentlich staatlicher Aufgaben auf die Geflüchteten. »Die Verantwortung für die sozial gerechte Ausgestaltung der Gebührenerhebung wird einseitig auf die Bewohner*innen abgewälzt – ein klarer Verstoß gegen verwaltungsrechtliche Grundsätze«, heißt es dazu in einer Pressemitteilung zur aktuellen UntGebO. Eine Schikane, die für Betroffene außerdem erhebliche Gefahren birgt. »Wir haben bereits mehrfach von so zustande gekommenen ›Verschuldungen‹ im fünfstelligen Bereich erfahren«, sagt Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat Berlin. Bekannt sei etwa ein Fall einer mehrköpfigen Familie, die nach einigen Monaten auf einmal einen Mahnbescheid über 16 000 Euro erhalten habe. Wie aber kann das genau passieren?
»Ein Bewohner der Flüchtlingsunterkunft Tegel mit einer Beschäftigung von 1900 Euro muss 763 Euro für sein Doppelstockbett bezahlen.«
Emily Barnickel Flüchtlingsrat Berlin e.V.
Vor allem bei neu in Deutschland Angekommenen sieht die Organisation eine »Gefahr der Verschuldung aufgrund von Unwissen«. Menschen sind mit dem Behördensystem überfordert. Zudem gebe es nur unzureichend mehrsprachige Informationen. Ein weiteres Problem ist die lange Bearbeitungsdauer von Anträgen und Bescheiden in Berlin. Bis etwa ein Beschäftigungsverhältnis registriert und ein entsprechender Gebührenbescheid erstellt ist, kann der Mahnungsbetrag nach ein paar Monaten für Geflüchtete irrwitzige Höhen erreichen. Doch auch Menschen, deren Wohnkosten eigentlich vom Jobcenter bezahlt werden, erhalten Mahnbescheide, weil die Bearbeitung der Anträge so lange dauert.
Laut dem Flüchtlingsrat beginnt das Problem bereits bei der Bemessung der Wohnkosten in den Unterkünften. Die Senatsverwaltung gibt an, dass die Gebühren aufgrund der »voraussichtlichen Kosten für den Betrieb der Unterkünfte« berechnet und jährlich aktualisiert werden. So entsteht ein Pauschalbetrag, unabhängig von Wohnfläche oder Anzahl der Personen, die diese miteinander teilen. Da Zimmergrößen je nach Einrichtung stark variieren, können so Quadratmeterpreise aufkommen, die weitaus höher liegen als auf dem Wohnungsmarkt. »Ein extremes Beispiel wäre jemand in der Flüchtlingsunterkunft Tegel, mit einer Beschäftigung von 1900 Euro leicht über der Reduzierungsgrenze. Der muss 763 Euro für sein Doppelstockbett in seiner Parzelle bezahlen«, sagt Barnickel vom Berliner Flüchtlingsrat. Die Mindeststandards für die Wohnfläche pro Person in Flüchtlingsunterkünften dieser Art liegen bei sechs bis sieben Quadratmetern. In der Praxis seien es jedoch weniger, so Barnickel. Eine grundsätzliche Überarbeitung der Verordnung hält der Flüchtlingsrat daher für absolut notwendig – dass sich der Senat damit auseinandersetzen will, sieht die Organisation derzeit nicht.
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