Mindestlohn bleibt unter Armutsschwelle

Kommission erhöht Lohnuntergrenze deutlich. DGB und SPD begrüßen Entschluss

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 5 Min.
Dürften gegen den Widerstand von Wirtschaftsverbänden auch von der Mindestlohnerhöhung profitieren: Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.
Dürften gegen den Widerstand von Wirtschaftsverbänden auch von der Mindestlohnerhöhung profitieren: Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.

Die unabhängige Mindestlohnkommission hat einen höheren Mindestlohn beschlossen. Nach langen Verhandlungen einigten sich die Mitglieder auf eine Erhöhung in zwei Stufen: Ab Januar 2026 steigt die Untergrenze von aktuell 12,82 Euro auf 13,90 Euro. Ab 2027 kommen für die derzeit rund sechs Millionen Beschäftigten, die den Mindestlohn erhalten, weitere 70 Cent hinzu. Dann liegt er bei 14,60 Euro. »Mit diesem Ergebnis haben die Sozialpartner eine konstruktive Lösung gefunden«, sagte Stefan Körzell, Vorstandsmitglied und Verhandlungsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Die Abstimmung verlief einvernehmlich, wie aus Verhandlungskreisen zu hören ist. Anfangs konnte man sich nicht auf einen Kompromiss einigen, doch ein Vermittlungsvorschlag der Kommissionsvorsitzenden Christiane Schönefeld glättete die Wogen. Beim letzten Mal hatten die Unternehmensverbände sich in dem paritätisch besetzten Gremium mit der Stimme der Vorsitzenden gegen die Gewerkschaften durchgesetzt, was der DGB als Affront und Vertrauensbruch im paritätisch besetzten Gremium kritisierte. Damals wurde der Mindestlohn trotz hoher Inflationszahlen um nur 41 Cent erhöht.

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SPD und DGB begrüßen Beschluss

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) begrüßt den aktuellen Beschluss der Kommission in einer Stellungnahme. »Um den Kompromiss wurde hart gerungen«, teilt sie mit. Die Entscheidung zeige, dass die Sozialpartnerschaft funktioniert. »Das ist die größte sozialpartnerschaftlich beschlossene Lohnerhöhung seit Einführung des Mindestlohns«, zeigt sich Bas zufrieden und kündigt eine rasche Umsetzung per Verordnung an.

In die Entscheidung flossen die derzeit schleppende wirtschaftliche Entwicklung und der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ein. Auch das Kriterium von 60 Prozent des Medianeinkommens bei Vollzeitbeschäftigten (40 Stunden) floss in die Berechnungen ein. Das Medianeinkommen ist das Einkommen, bei dem die eine Hälfte mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Laut Körzell wird dieses Kriterium mit der jetzigen Anhebung erfüllt, was die Grundlage für einen armutsfesten Mindestlohn lege.

Das widerspricht allerdings Berechnungen des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Die Ökonom*innen berechnen, dass der Mindestlohn in Deutschland je nach Berechnungsgrundlage für 2026 zwischen 14,18 und 15,02 Euro sowie für 2027 zwischen 15,31 und 15,48 Euro liegen müsste. Laut OECD-Zahlen wäre bereits in diesem Jahr ein Mindestlohn von 15,12 Euro nötig, um ihn über die Armutsschwelle zu heben. Eine Anfrage beim DGB dazu blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Scharfe Kritik von links

Scharfe Kritik am Kommissionsbeschluss kommt von links. Ines Schwerdtner, Vorsitzende der Linkspartei, bemängelt: »Mit 14,60 Euro bleibt der Mindestlohn ein Armutslohn.« Sie fordert eine Erhöhung per Gesetz auf 15 Euro. Zudem soll die Lohnuntergrenze automatisch an das 60-Prozent-Kriterium angepasst werden, wie es auch in einer entsprechenden EU-Richtlinie festgelegt ist. »Alles andere bedeutet, Armut trotz Arbeit bewusst in Kauf zu nehmen«, sagt Schwerdtner und verweist darauf, dass viele Niedriglohnbeschäftigte ihr Gehalt durch Sozialleistungen aufstocken müssen. Ähnlich, nur ohne Verweis auf die EU-Richtlinie, formuliert es auch BSW-Chefin Sahra Wagenknecht.

Durch die Einführung und schrittweise Erhöhung des Mindestlohns seit 2015 ist die Zahl der Aufstocker von 1,3 Millionen auf rund 826 000 im Jahr 2024 gesunken. Zudem wurde der Niedriglohnbereich deutlich reduziert, erklärte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (IW) zur aktuellen Entscheidung.

Die Wirtschaftsverbände setzen darauf, dass der Kompromiss ein politisches Eingreifen verhindert, wie aus Verhandlungskreisen zu hören ist. Die schwarz-rote Koalition hatte in ihrer Regierungsvereinbarung einen Zielwert von 15 Euro festgelegt, ein zentrales Wahlkampfversprechen der SPD. »Dass die Sozialpartner eine Einigung gefunden haben, ist ein wichtiges Signal für die Wahrung der Tarifautonomie«, sagt Kim Cheng, Hauptgeschäftsführerin der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss (ANG), im Gespräch mit »nd«.

Ostdeutsche Wirtschaftsverbände unzufrieden

Nicht alle Unternehmensverbände teilen diese Einschätzung. Guido Zöllick, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga), kritisiert, dass durch die Erhöhung acht regionale Tarifverträge 2026 überholt und teilweise außer Kraft gesetzt würden. »Das gesamte tarifliche Lohngefüge wird beeinflusst.« Dennoch begrüßt der Verband die unabhängige Gesamtabwägung der Kommission. Die Erhöhung in zwei Schritten mildere die Belastung und verbessere die Planbarkeit.

Deutlich ablehnende Töne kommen aus den ostdeutschen Unternehmensverbänden. »Was nutzen den Mindestlohnempfängern die beschlossenen Erhöhungen, wenn der Staat gleich wieder ordentlich kassiert, wenn Dienstleistungen teurer und für manche damit unerschwinglich werden, sodass am Ende der Job gleich ganz in Gefahr gerät?«, warnt der Präsident der Vereinigung der Sächsischen Wirtschaft (VSW), Jörg Brückner. Im Vorfeld hatte der VSW gemeinsam mit den Verbänden in Thüringen und Sachsen-Anhalt grundsätzlich vor einer Erhöhung gewarnt. Der Deutsche Bauernverband wollte gar mit Unterstützung einiger Unionspolitiker*innen eine Ausnahme für Saisonarbeiter*innen einführen.

Diesen Vorstoß wiesen Arbeitsministerin Bas und der DGB energisch zurück. Und auch einen wirtschaftlichen Schaden sieht DGB-Vorstandsmitglied Körzell durch die Anhebung nicht als gegeben. Im Gegenteil: »Über den Zeitraum von zwei Jahren ergibt sich mit den erzielten Steigerungen ein gesamtwirtschaftliches Lohnplus für die Mindestlohnbeschäftigten von rund 5,7 Milliarden Euro«, betont er. Anzunehmen sei, dass dieses Geld in den Konsum fließe und die Konjunktur belebe.

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