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Der Hochsicherheitstrakt als allgemeiner Zustand
Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe. Gibt es eine linke Zukunft?
Die Zukunft sieht so schlecht aus, weil unsere Gegenwart schon grauenhaft ist: moralisch, politisch, kulturell. Hintergrund ist das, was »Zeitenwende« genannt wird. Ich definiere »Zeitenwende« als Ausdruck eines nicht rückgängig zu machenden Verschwindens der alten vom westlichen Norden bestimmten Weltordnung. Wir erleben gerade einen historischen Zusammenbruch.
Und wir erleben, auch das beziehe ich auf den westlichen Norden, dass wir dem nichts dagegenzusetzen haben. Ein Plan B – von Plan C usw. erst gar nicht zu reden – fehlt und wird auch blind immer ausgeschlossen. Mit dem Scheitern des Realsozialismus – und im Gefolge davon: vielen anderen kleineren Versuchen – scheint uns die Alterität abhandengekommen zu sein, die mögliche Anderheit von Gesellschaft, der Bruch mit bisherigen hegemonialen Normen. Mit seiner Identifikation von Marktwirtschaft und »Freiheit« hat sich der Westen dumm gemacht und deshalb der Welt auch nichts mehr zu erzählen. Vor allem sich selbst nichts mehr.
Weil uns diese Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit dem möglichen Unmöglichen, wie ich es mal genannt habe, fehlt, ist uns vieles verloren gegangen und verblöden wir unter den vorherrschenden Kriterien von Effizienz im bestehenden gesellschaftlichen Produktionszusammenhang. Wenn das Unmögliche verloren geht und nur noch das Mögliche bleibt, kann alles nur noch spiralhaft reaktionärer werden. Kapitalismus oder Tod – das ist gerade das, was uns als Zwang vorgehalten wird. Damit sind wir in eine Falle geraten. Wir haben ja nicht mal mehr die Faust in der Tasche!
Wut auf Ungerechtigkeit, Wut auf Elendszustände in der Welt, die längst hätten aufgehoben werden können, wenn wir uns endlich von unserem desaströsen Wirtschaftssystem verabschiedet hätten, existiert nicht mehr. Oder gar Mut zur neuen Gestaltung der Welt. Stattdessen lauter neue alte, in gewisser Weise prähistorische Führer, hier in Reinkultur für alle anderen: Trump, die rechte Gegenglobalisierung – ein Vorhaben, das aus der Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus heraus ausgeschlossen ist! Das Wachstum für alle ist vorbei!
Blochs Optimismus als ein Zitat aus den Bauernkriegen: »Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus«, hat keine geschichtliche Bestätigung gefunden. Auch die Enkel wurden und werden unterworfen. Erkennbar als konkrete Zukunft ist bis jetzt nur die Reise in Faschismus und Krieg. Und dass – ich beziehe mich vor allem auf Deutschland – die Menschen erstarrt sind und wie betäubt stehen vor dem Willen politischer Eliten, das alte, zu Recht untergehende System wieder aufzumunitionieren, die Gesellschaft wieder wehrfähig zu machen. Mit unerträglich dümmlichen Parolen wie: Nation, Volk oder dem, was sie Freiheit nennen, also der Freiheit des Marktes. Für wen sollen wieder Menschen und Zivilisation verheizt werden? Für das Vaterland des globalisierten Kapitalismus?
Ich komme noch aus einer Zeit, da war die Empörung und ein offen auftretender Widerstand gegen das Unzumutbare normal. Man wusste einfach: Im anderen wird man auch selber bekämpft und unterdrückt. Warum ist das heute nicht da? Ich kann das nur dahingehend interpretieren, dass uns die Welt der Verwertung, die auch eine Welt der umfassenden Objektstellung des Menschen und auch aller sozialen Werte ist, unsere Existenzgrundlage und damit unser Empfinden bestimmt – oder besser gesagt: niedermacht. Keine Geste, keine soziale oder politische Position, die nicht davon kontaminiert ist: Produziere, kaufe und konsumiere und alles immer schneller und ohne jeden weiteren Gedanken – das ist das Leben!
Wir erinnern uns daran: Die 60er Jahre, das war nicht nur Vietnam als pars pro toto für die imperialen Gewaltattacken des »freiheitlichen Westens« auf den Rest der Welt. Damals wurde die Freiheit des Westens in Vietnam verteidigt, später in Afghanistan und heute »bis zum letzten Ukrainer«, wie es einem englischen Freund von mir vor einiger Zeit treffend einfiel. Man ist geradezu erstaunt, wie die plattesten Propagandaparolen wirkmächtig bleiben! Die großen Kriegsschreier und Wehrertüchtiger, das wissen wir alle, meinen dabei immer nur die anderen, die für die Beibehaltung dieser alten Ordnung ihr Leben geben sollen.
Dieser Prozess der Durchkapitalisierung unseres gesamten Lebens hatte damals in den 60er Jahren einen Sprung gemacht. Davon werden wir getrieben und wir leben vor allem in einer Gegenwart von Konsum und Produktion. Die Folge ist eine hintergründige Zurichtung des Subjekts an ein Leben, in dem absolut alles variabel ist und nichts mehr einen eigenen Wert, seine eigene unangefochtene Gültigkeit besitzt.
Warum funktioniert das? Was übrig bleibt nach der Zerstörung eines kollektiven Sozialen als dominierende Grundlage unseres Lebens, ist das Interesse und das ist für sich genommen strukturell reaktionär und die anderen ausschließend. Weder Moral noch Ideologie spielen dabei eine Rolle. Das ist interessant, weil auch die wiedererstarkten neuen alten ideologischen Faschisten am Ende lächerliche Kasper sind, brutal zwar, aber lächerlich. Auch die FPÖ-Mitglieder hier sind für Migration, wenn der Österreicher den Müll nicht mehr wegfahren will. Ideologie ist längst keine Überzeugung mehr, sondern Instrument, hinter dem sich in der Regel kleinliche Interessen verbergen.
Wir haben heute also ideologische Faschisten, für die ihre Ideologie interessenbestimmt variabel ist. Dann haben wir Demokraten, für die ebenso alles interessenbestimmt variabel ist. Wir haben ideologische Faschisten und wir haben technische Faschisten. Auch das ist eine Folge der allumfassenden Besetzung des Lebens im Kapitalismus. Alle passen sich an.
Wo sind wir gelandet? Ich habe vor vielen Jahren im Hamburger Institut für Sozialforschung gearbeitet und für eine Protestchronik Recherchen zu den späten 50er und frühen 60er Jahren gemacht. Einer der Funde, die mir in Erinnerung sind: ein Streit unter Kommunisten und Antifaschisten, ob man einfach seine Plakate aufhängen soll oder ob man nicht vorher bei der Polizei nachfragen muss, damit man der Gefahr der Kriminalisierung entgeht. Bei diesen autoritären Strukturen der postfaschistischen Ära sind wir längst wieder gelandet.
Die Polizei erteilt Sprech- und Denkgebote. Als ich im Gefängnis war in meinem Isolationstrakt, mussten die Besucher, die lange Zeit einmal im Monat für eine Stunde Besuch zugelassen wurden, oft hinter Trennscheibe, protokollierend überwacht von zwei Beamten des Landeskriminalamtes auf der einen Seite und von einem Gefängniswärter auf meiner Seite, vor dem Besuch eine Liste mit 21 Punkten unterschreiben, über die nicht geredet werden durfte, da ansonsten der Besuch abgebrochen würde. Das wäre etwas für Kafka gewesen. Der partiell und kontrolliert in die Gesellschaft gesetzte, also davon abgetrennte Ausnahmezustand des Hochsicherheitstraktes, der dem Rest der Gesellschaft seine »Normalität« ließ, ist längst zum allgemeinen Zustand geworden.
Und hier können wir wieder zu der Eingangsfrage zurückkehren, ob die Zukunft desaströs ist. Ich kann nur sagen: ja, die Gegenwart ist es schon und der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass es damals ein Außen gab gegenüber den herrschenden Verhältnissen, ein längst eingefrorenes Außen zwar, das noch aus der Oktoberrevolution kam, und ein aktives Außen, das durch die antikolonialen Kämpfe und durch die Emanzipationsbewegungen in den Zentren selber gesetzt war durch eine Jugend, die sich die Möglichkeiten des Lebens nicht durch Disziplin, Gehorsam, Krieg, faschistische Machtanwendung, nicht durch Unterwerfung, Ausbeutung und Drill oder durch das Hochhalten der Konsumentenkultur nehmen lassen wollte und deswegen lautstark auf die Straßen ging und sonst wohin, zum Teil auch in den Untergrund.
Wir haben dieses Außen verloren. Das ist die Katastrophe und deswegen können uns geistlose Politiker weiter in die Scheiße reiten, um es drastisch auszudrücken und weiter die Politik töten, denn Politik würde eigentlich bedeuten, über die Dinge und Prozesse, die eine Gesellschaft bestimmen, zu verfügen, sie zu regeln, auch außer Kraft zu setzen. Stattdessen verfügen in allem beschränkte Figuren über die Macht des Staates, um im Interesse einiger weniger gnadenlos der vorgegebenen Logik der Verhältnisse, das heißt, der Logik des Kapitalismus, zu folgen.
Deswegen sieht die Zukunft schlecht aus, geradezu katastrophal, denn wir stehen ihr heute wieder allein gegenüber. Und wir dürfen uns keine Illusionen machen. Als wir das »Konzept Stadtguerilla« verfolgt haben, kam es aus der Erkenntnis, dass es »keine preußische Marschordnung« geben wird. Wenn die Situation reif ist, hieß es damals, wird es für die Organisierung des Kampfs zu spät sein. Wir müssen jetzt schon handeln. Das hat seine Wahrheit nicht verloren. Falsch daran war offensichtlich, daraus eine strategische Konzeption zu machen, eine, die offensiv die Herstellung einer Revolution verfolgt.
Keine Situation wird je so total sein, dass das Selbstbewusstsein der Freiheit vollständig verloren geht. Es gäbe dann den Menschen nicht mehr. Vielleicht ist das das Einzige, was den Satz des Paulus bestätigt: ohne Hoffnung hoffen. Das meint aber die Freiheit zum Handeln.
Karl-Heinz Dellwo, Jg. 1952, ehemaliges RAF-Mitglied, arbeitet seit seiner Entlassung aus der Haft 1995 als Dokumentarfilmer und Publizist; 2009 war er Mitgründer des LAIKA-Verlages und ist seit 2019 Mitbetreiber der Galerie der abseitigen Künste. Dieser Text ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung seines Redebeitrags im Rahmen der Wiener Festwochen.
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