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- Angebliche Spionage für Israel
Iran: Repressionswelle nach Beschuss des Evin-Gefängnisses
Die iranischen Behörden beschuldigen inhaftierte Franzosen der Spionage für Israel
Als Noémie Kohler Ende Juni von den israelischen Raketen hörte, die das Evin-Gefängnis in Teheran getroffen hatten, bekam sie Angst. Ihre Schwester, die französische Lehrerin Cécile Kohler, ist seit Mai 2022 mit ihrem Ehemann Jacques Paris dort inhaftiert – als politische Geisel der Islamischen Republik Iran. Seit dem Angriff hat Noémie kein Lebenszeichen mehr erhalten.
»Das letzte Mal hörten wir am 30. Mai von ihr, bei einem kurzen konsularischen Besuch. Sie war erschöpft, krank, sehr geschwächt«, erzählt sie im Gespräch mit dem »nd«. Dann herrschte wochenlang absolute Funkstille, die Sorgen wuchsen. Inzwischen aber haben französische Medien berichtet, dass Cécile Kohler und ihr Ehemann Jacques Paris am Leben sind. Am Dienstag besuchte der Geschäftsträger der französischen Botschaft in Teheran die beiden im Gefängnis. Die iranische Justiz beschuldigt das im Mai 2022 festgenommene Ehepaar der Spionage für den israelischen Geheimdienst Mossad, hieß es aus westlichen diplomatischen Kreisen und dem Umfeld der Verhafteten gegenüber der Nachrichtenagentur AFP am Mittwoch. Den beiden droht demnach die Todesstrafe. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es nicht.
Falls der Iran die beiden inhaftierten Franzosen nicht freilässt, will sich Frankreich für die Wiederaufnahme von Sanktionen einsetzen. »Die Freilassung von Cécile Kohler und Jacques Paris hat für uns oberste Priorität«, sagte Außenminister Jean-Noël Barrot am Donnerstag in Paris. »Die Frage der Entscheidung über Sanktionen wird von der Lösung dieses Problems abhängen«, fügte er hinzu. Noémie Kohler verlangt, dass Frankreich endlich handelt und fordert »eine Notfallauslieferung.«
Der Angriff auf das Evin-Gefängnis am 24. Juni traf israelischen Angaben zufolge das Verwaltungsgebäude sowie das Eingangstor des Gefängnisses. Die Bomben rissen aber auch das Dach des Frauentraktes für politische Gefangene ein, zerstörten Bibliothek und Krankenhaus im Männertrakt. Einige Gefangene wurden verletzt. Staatsmedien des Regimes im Iran sprechen von 71 Toten. Zerstört wurde auch der berüchtigte Isolationstrakt 209 – hier waren zahlreiche politische Gefangene inhaftiert.
Seit nunmehr einem Jahr hatte das iranische Regime Pläne geschmiedet, das politische Gefängnis zu räumen. Mit der Rakete Israels öffnete sich eine Gelegenheit dazu. Innerhalb weniger Stunden wurden Gefangene in andere, entlegene Gefängnisse verlegt, isoliert oder verschwanden ganz. Für das Regime war Evin stets ein Stachel im Fleisch: Es ist die Speerspitze der politischen Zivilgesellschaft, ein Symbol des Widerstands. Hier sitzen Journalistinnen, Studierende, Frauenrechtlerinnen, Gewerkschafterinnen, kurdische Aktivistinnen und andere Oppositionelle.
Reza Younesi hat gleich zwei Familienmitglieder, die dort inhaftiert waren: seinen Bruder Ali sowie seinen Vater Miryousef. Er berichtet, dass Ali bereits fünf Tage vor dem Angriff aus Trakt 4 verlegt wurde – offenbar mit dem Ziel, ihn zu isolieren. Menschenrechtlerinnen befürchten, er wurde in den Isolationstrakt 209 verlegt – der durch die israelischen Bomben zerstört wurde. Erst eine Woche nach dem Anschlag erhält Reza ein kurzes Lebenszeichen von seinem Bruder.
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Nach dem Angriff wurde auch sein Vater, Miryousef Younesi, verlegt – ins berüchtigte Große Teheraner Gefängnis. »Dort gab es anfangs weder Essen noch trinkbares Wasser. Die Insassen schlafen auf dem Boden. Sie durften ihre Kleidung aus Evin nicht mitnehmen, weshalb mein Vater seit drei Tagen krank ist.«
Die Repression geht längst über Evin hinaus. Seit dem Waffenstillstand hat die Islamische Republik eine Verhaftungswelle ausgelöst. Mehr als 700 Personen wurden laut der Menschenrechtsorganisation HRANA unter dem Vorwurf der »Spionage für Israel« festgenommen, mindestens sechs Personen wurden in den zwölf Tagen des Krieges dafür hingerichtet. Die Justiz kündigte an, dass Prozesse künftig auf Grundlage eines neuen, noch nicht verabschiedeten Gesetzes zur Spionage geführt werden sollen – ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien.
Die Gewalt trifft auch marginalisierte Gruppen, besonders ethnische Minderheiten geraten unter Verdacht. Berichten zufolge wurden in den ersten fünf Tagen nach dem Waffenstillstand mindestens 114 000 Afghaninnen über den Grenzübergang Islam Qala nach Afghanistan abgeschoben – viele von ihnen hatten gültige Papiere, die Anfang des Jahres für rund zwei Millionen Menschen plötzlich für ungültig erklärt worden waren. Seither werden Migrantinnen verstärkt kontrolliert, ihre Handys beschlagnahmt, sie werden unter dem Vorwurf »kommunikativer Verbindung zu Israel« schikaniert, verhaftet oder zwangsweise abgeschoben. Wer Afghaninnen eine Wohnung vermietet, muss mit Enteignung rechnen, drohte nun Grenzschutzkommandeur Ahmad-Ali Goudarzi.
Reza Younesi fordert die Europäische Union auf, sich auf die Seite der Menschen im Iran zu stellen. »Die Einhaltung der Menschenrechte muss für die EU und USA ebenso wichtig auf der Tagesordnung sein wie das Thema Nuklearverhandlungen«, fordert er.
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