Staat im Staate Frankreich

Neukaledoniens Unabhängigkeitsbewegung ist zu Kompromissen bereit und schließt Abkommen mit Paris

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Frankreichs Premier Bayrou (l.) und Präsident Macron trafen Vertreter Neukaledoniens.
Frankreichs Premier Bayrou (l.) und Präsident Macron trafen Vertreter Neukaledoniens.

Die Ausdauer bei den monatelangen Verhandlungen hat sich gelohnt. Am Wochenende konnte in Bougival bei Paris durch die Vertreter der Pariser Regierung, der Unabhängigkeitsbewegung von Neukaledonien und der Organisationen der dortigen ehemaligen französischen Siedler eine »Übereinkunft« unterzeichnet werden. Sobald das Abkommen Eingang in die Verfassung der Französischen Republik gefunden hat und vor Ort durch die Wählermehrheit gebilligt ist, wird Neukaledonien zu einem »Staat im Staate«.

Mehrere Beteiligte und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichneten das 13-seitige Dokument als »historisch«. »Ein Staat Neukaledonien innerhalb der Republik: Das ist eine Wette auf Vertrauen«, erklärte Macron. Neukaledonien schlage nun »ein neues Kapitel seiner Zukunft in friedlichen Beziehungen mit Frankreich auf«. Auch Premierminister François Bayrou sprach von einem Abkommen von »historischer Dimension«.

Alle Einwohner bekommen zusätzlich zur französischen Staatsangehörigkeit auch noch die Neukaledoniens. Gemäß dem Völkerrechtsprinzip der nationalen Selbstbestimmung erhält Neukaledonien automatisch volle Kompetenz für die internationalen Beziehungen und kann Mitglied der Uno werden. Auf Antrag des Inselrates, wobei eine Drei-Fünftel-Mehrheit der 56 Abgeordneten nötig ist, kann die Übertragung der Kompetenzen für Verteidigung, Währung, Innere Sicherheit und Justiz an Frankreich vollzogen werden.

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Der ökonomischen Stabilisierung Neukaledoniens, wo rund 270 000 Menschen leben, dient ein zweites Abkommen. Mit dem »wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbaupakt« soll gewährleistet werden, dass das bislang von Transferleistungen abhängige Neukaledonien mittelfristig auf eigenen Beinen stehen kann. Dafür soll vor allem der Abbau von Nickel modernisiert und rentabel gemacht werden. Neukaledonien verfügt über die weltweit zweitgrößten Vorkommen dieses für die Stahlveredelung wichtigen Grundstoffs.

Nicht nur wegen der reichen Bodenschätze hat Neukaledonien für Frankreich große Bedeutung. Der Archipel mit mehreren Dutzend Inseln 1500 Kilometer vor der australischen Nordostküste ermöglicht es Paris, im Pazifikraum mit dem zunehmenden Einfluss Chinas geostrategisch mitzureden.

Um die Übereinkunft von Bougival umzusetzen, soll sie im Herbst auf einer feierlichen Sitzung des Kongresses, der gemeinsamen Sitzung beider Kammern des Parlaments in Versailles, Eingang in die Verfassung der Französischen Republik finden.

Im Februar 2026 müssen die Einwohner von Neukaledonien per Referendum ihre Zustimmung geben und im März finden dort wie überall in Kontinental-Frankreich und den Überseegebieten Kommunalwahlen statt. Dabei gelten in Neukaledonien neue Wählerlisten, in die auch die 12 000 Einwohner einbezogen sind, die per Regierungsdekret 2009 ausgeschlossen blieben, weil sie noch nicht zehn Jahre hier gelebt haben. Dies hatten die Nachfahren der Ureinwohner, die sich selbst als Kanaken bezeichnen, als diskriminierend empfunden und befürchtet, dass damit verhindert werden sollte, dass sie bei Wahlen die Mehrheit bekommen.

Die 1774 durch den britischen Seefahrer und Kartografen James Cook entdeckte Inselgruppe war 1853 von Admiral Fabvrier-Despointes für Frankreich unter Kaiser Napoleon III. in Besitz genommen worden. Bis 1922 diente Neukaledonien als berüchtigte Strafkolonie. Die meisten der europäischstämmigen Einwohner, etwa ein Drittel der Bevölkerung, sind Nachfahren von Häftlingen und ihrer Wärter oder später eingewanderter Siedler aus Frankreich. Die indigene Bevölkerung wurde von der Kolonialmacht lange Zeit unterdrückt.

Mit dem in der Hauptstadt des Inselgebiets unterzeichneten Abkommen von Nouméa hatte Paris Neukaledonien 1998 mehr Selbstbestimmung zugestanden und eine schrittweise Entlassung in die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Allerdings hatten Volksabstimmungen 2018, 2020 und 2021 jeweils eine Mehrheit für die Nachfahren der Siedler und gegen eine Abtrennung von Frankreich ergeben. Dieses Thema schwelte dennoch weiter und war im Mai 2024 Auslöser von Unruhen in dem 20 000 Kilometer vom Mutterland entfernten Überseedepartement. Die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße forderten 14 Tote und mehrere hundert Verletzte. Seitdem ist der Frieden nur oberflächlich wiederhergestellt.

In den nächsten Monaten wird die Hauptaufgabe der Führer der Unabhängigkeitsbewegung FLNKS (Front de libération nationale kanak et socialiste) einerseits und der Organisationen der Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren und der über die Jahrhunderte hier angesiedelten Kontinental-Franzosen andererseits darin bestehen, ihre Basis von der Richtigkeit des Kompromisses zu überzeugen. Vor allem radikale jugendliche Anhänger der FLNKS haben bei den Unruhen vor zwei Jahren und in der Zeit seitdem Gewaltakte verübt.

Auf beiden Seiten gab es bereits unmittelbar nach der Unterzeichnung des Übereinkommens kritische und sogar ablehnende Stimmen, die ihren eigenen Repräsentanten vorwarfen, ohne Not wesentliche Forderungen und Interesse aufgegeben zu haben.

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