Mit rotem Kopf in der Freibadschlange

Christoph Ruf über die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich

Der Flughafen auf der Nordseeinsel Sylt wird vor allem von Reichen genutzt, die dort mit ihren Privatflugzeugen - oft für einen Kurzurlaub - landen.
Der Flughafen auf der Nordseeinsel Sylt wird vor allem von Reichen genutzt, die dort mit ihren Privatflugzeugen - oft für einen Kurzurlaub - landen.

Ich will demnächst ein paar Tage frei machen. Doch vorher gilt es, im Zeitraffer Liegengebliebenes wegzuarbeiten. Wer Dinge verschleppt und wie grob geschätzt 99,7 Prozent der Angehörigen meiner Berufsgruppe noch nie einen Text vor dem Abgabetermin herausgeschickt hat, wird allerdings zu Recht bestraft. Beispielsweise mit dem stundenlangen Abhören von mitgeschnittenen Gesprächen, bei denen es erstaunlich viele Interviewte schon beim einleitenden Smalltalk schaffen, mehrere Male die Schwachsinnsphrase »alles gut« (»assgut«) zu verwenden. Haften blieb etwas anderes. Nämlich, dass bisher in all den Gesprächen mit Sportlern, Politikerinnen, Gastronominnen und Privatiers fast immer einer der folgenden beiden Sätze fiel. Entweder: »Wir jammern doch auf hohem Niveau.« Oder: »Wir sind schließlich immer noch ein reiches Land.«

Ich zucke bei diesen Sätzen immer zuerst zusammen, gebe aber zu, dass eine solche Wahrnehmung vielleicht nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Zumindest nicht, wenn man daran denkt, dass für viele Menschen ein Flug nach Kopenhagen, Barcelona oder Paris heute das ist, was für ihre Eltern der Spaziergang im Stadtwald war – eine nette Ablenkung nach einer stressigen Arbeitswoche. Auch Kinder, die das 25-Euro-Gericht auf der Karte bestellen (dürfen) und nach einer Gabel zurückgehen lassen (dürfen) und viele andere Alltagsbeobachtungen – jeder zweite Salatkopf wird weggeworfen –, scheinen diese Wahrnehmung zu stützen.

Christoph Ruf

Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.

Natürlich geht es den deklassiertesten Menschen hierzulande um Welten besser als den meisten im nigerianischen Lagos oder einer brasilianischen Favela. Und trotzdem übersieht die Behauptung vom »reichen Land«, dass die Gesellschaft ökonomisch immer weiter auseinanderdriftet – eine Entwicklung, die hier ganz ohne Trump’sche Steuerreform eingetreten ist. Es ist eben ein großer Unterschied, ob ich privat versichert bin oder nicht, wenn ich nach einer blöden Diagnose einen Behandlungstermin brauche. Und während so manches Gymnasiastenkind auf Kosten der Eltern übers Wochenende (»Der Jonas hat so fleißig Mathe gelernt«) nach Porto fliegt, suchen andere verzweifelt nach Ausreden, warum ihr Kind schon wieder nicht den Klassenausflug mitmachen kann.

Zum Thema: »Andere wollten mich in ein System zwingen« – Jürgen Schneider über Armutserfahrungen, Wohnungslosigkeit und die Stärke Betroffener

Wie überhaupt Millionen von Menschen schlicht kein Geld mehr haben. Das gegenwärtige Gastronomiesterben kommt nicht von ungefähr. Der Bus, das Brot, der Espresso – in den vergangenen Jahren gab es Preissteigerungsraten, die man sonst nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Vor allem aber sind die Mieten explodiert. Mit freundlicher Unterstützung von CDU, SPD, FDP und Grünen, die in wechselnden Koalitionen zugelassen, respektive herbeigeführt haben, dass in den vergangenen 25 Jahren aus vier Millionen Sozialwohnungen eine Million wurde.

Vieles, was früher für fast alle Menschen selbstverständlich war, ist heute zu Vergnügungen der Privilegierten geworden. Am Wochenende war ich in einem stinknormalen Freibad, Pause vom Bandabhören machen. Die Frau vor mir in der Schlange zögerte ein wenig zu lange und kehrte dann mit rotem Kopf wieder um. Gerade hatte sie den Eintrittspreis erfahren: sieben Euro.

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