- Kultur
- Samstagmorgen
Das Leben ist unberechenbar
Erinnerungen an einen Luftkuss und an eine Frau mit Hund
An jenem Sonntagmorgen wachte ich in einem verdunkelten Schlafzimmer auf. Neben einer Frau, deren Brustkorb sich hob und senkte, mit einem Hund zu Füßen, der aufsah, als ich ihn noch schlaftrunken betrachtete. Wer war der schattenhafte Mann auf dem Bild neben der Tür? Paul Cézanne? Oder war das ein Spiegel? Ich fühlte mich dick und unattraktiv wie nie. Aber es war schön gewesen, zu lieben. Der Hund seufzte und ließ die Schnauze auf den Boden sinken, ein Umriss im Dämmerlicht, und einen Luftkuss später war ich zur Tür hinaus.
Wenn Emma ihre kleine Wohnung verließ, ließ sie das Radio laufen, in Zimmerlautstärke. Ihre Telefonate, egal ob privat oder beruflich, legte sie auf die Wegstrecke zwischen Wohnungstür und Bushaltestelle, Bushalte und Schulpforte, um sich auf dem Weg zur Arbeit und zurück sicher fühlen zu können. Sie war ein gebranntes Kind, ängstlich und besitzergreifend; sie verletzte, weil sie verletzt war, und demütigte, weil sie es nicht besser wusste. Sie war Vollwaise und hatte vor mir einen Freund, dem die Hände amputiert worden waren. Ihre eigenen fühlten sich wie sündhaft teure Handschuhe an. Ja, sie waren sanft, so wie Emma im Ganzen sanftmütig war, während meine Wünsche nicht nur ihr zuweilen aggressiv erschienen. So war das eigentlich. Andererseits auch nicht.
Im vorvorletzten Herbst bevor wir uns kannten, hatte sie sich vor eine Straßenbahn geworfen. Zum Glück war nicht Schlimmeres passiert: Die Straßenbahn konnte rechtzeitig bremsen; Fahrer und Fahrgäste blieben unverletzt. Emma selbst rutschte aus, holte sich ein paar Schrammen und ein kleines Schleudertrauma. Danach machte sie ein paar Wochen Reha und den Schuldienst vorübergehend nur unregelmäßig. In den sozialen Medien postete sie fortan Bildchen von Tieren, süßen und herben, kleinen und großen, Alpakas und Impalas und Hunderassen mit französischen Namen – und in Bilder gerahmte Sprüche, die erklärten, warum diese Tiere die besseren Menschen waren. Sie schien gleichzeitig auf einem guten Weg und völlig verrückt geworden zu sein.
Ein paar Wochen nach einem missglückten Badeausflug saßen wir uns vor einem billigen Café gegenüber und unterhielten uns über die Möglichkeit von Ferien. Dann tirilierte ihr Handy, woraufhin sie die Alarmfunktion wegwischte, eine Schachtel aus der Handtasche kramte und vor meinen Augen die Pille nahm. Dabei redete sie ohne Umschweife weiter, von Berufsunfähigkeit und Frührente, während ich doch sehr lachen musste. So etwas hatte ich seit Jahrzehnten nicht gesehen.
Das Leben ist unberechenbar, erklärte sie. Und der Tod immer nur eine Straßenbahn entfernt, ergänzte ich im Stillen.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.