Igel in Berlin: Vor verschlossenen Gärten

Undurchlässige Zäune erschweren den Wildtieren das Leben in Berlin

Eigentlich nur nachts im Garten unterwegs: der Igel
Eigentlich nur nachts im Garten unterwegs: der Igel

Durch die Otto-von-Simson-Straße in Dahlem laufen nicht nur viele Studierende auf dem Weg zur Freien Universität Berlin. Nachts sind hier viel kleinere Berliner*innen unterwegs: die Igel. Doch auf der Suche nach Käfern und Würmern stoßen die kleinen Wildtiere auf für sie unüberwindbare Hindernisse: engmaschige Zäune und Mauern versperren ihnen den Weg von Garten zu Garten. Um ihnen das Leben zu erleichtern, wurden an einigen Zäunen kleine Igeltore angebracht: Löcher im Zaun, von einem Holztor umgeben und groß genug, damit die kleinen Wildtiere in den Garten laufen können.

»Die Igel müssen jede Nacht mehrere Kilometer weit laufen, um zu jagen«, sagt Biologin Sophie Lokatis zu »nd«. Sie hat das Igeltor-Projekt auf dem Campus der FU und in der Nachbarschaft auf die Beine gestellt. In Dahlem gibt es viele Gärten und Grünflächen für die Igel, aber auch viele Barrieren, an denen sie nicht vorbeikommen. Besonders fies sind Zäune, die auf Betonmauern stehen. Im FU-Garten »Blätterlaube« wurde durch eine solche Mauer deshalb ebenfalls ein Durchgang für die Igel geschaffen: ein einfaches Loch einmal durch die Mauer durch. »Das war ein Highlight, als wir das gebohrt haben«, sagt Lokatis. Nur ein Schild fehle noch, um das Loch als Igeltor kenntlich zu machen – zurzeit sieht es eher aus wie ein Wasserabfluss.

Die Dahlemer Nachbarschaft habe das Igelprojekt gut angenommen, sagt Lokatis. Die Biologin arbeitet inzwischen für die Deutsche Wildtier-Stiftung und geht das Projekt mit ihren Kolleg*innen in der ganzen Bundesrepublik an: Ein Netzwerk soll entstehen aus igeldurchlässigen Gärten und Grünflächen, damit sich die Wildtiere frei bewegen können. »Das hier bleibt dabei unser Modellprojekt«, sagt Lokatis zum Projekt an der FU.

Damit Igel in die Gärten kommen, braucht es Durchgänge: zum Beispiel ein solches Igeltor mit Plakette der Deutschen Wildtier-Stiftung.
Damit Igel in die Gärten kommen, braucht es Durchgänge: zum Beispiel ein solches Igeltor mit Plakette der Deutschen Wildtier-Stiftung.

Die Barrieren in der Stadt sind nur ein Problem für die Igel in Berlin. Die hier vorkommende Igelart, der Braunbrustigel, ist europaweit gefährdet, sagt Anne Berger, Biologin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, zu »nd«. »Dort, wo er vorkommt, nimme seine Zahl ab.« Tatsächlich seien Igel inzwischen öfter in der Stadt anzutreffen als auf dem Land – das liege an den schlechten Lebensbedingungen außerhalb der Städte aufgrund von zu großen einheitlichen Flächen und Monokulturen. »Igel brauchen mosaikartige, strukturierte Räume«, sagt Berger.

Und vor allem brauchen Igel Hecken, um sich tagsüber und im Winter zum Schlafen zu verstecken. Berlin biete da relativ gute Bedingungen, sagt Berger, verhältnismäßig viel Grün, viele Brachflächen, Parks und Heckenstrukturen. Doch durch Nachverdichtung und andere Bauprojekte schwinden auch in Berlin die igelfreundlichen Lebensräume.

Aber auch das Aufräumen und Zurechtstutzen der Berliner Stadtnatur bereitet den Igeln Probleme. Hecken sollten zum Beispiel im Winter bis etwa einen Meter über dem Boden nicht geschnitten werden, damit die Igel im Winterschlaf nicht gestört werden, sagt Berger. Außerdem wünscht sich die Biologin »wilde Ecken«: Auf jedem Friedhof oder Park könnte ein kleiner Teil den Berliner Wildtieren und Pflanzen vorbehalten sein und von Menschen nicht betreten werden. Auch Holz- und Laubhaufen sollten liegen gelassen werden. »Ohne Laub keine Igel«, sagt Berger.

Wildtiere in Berlin

Während wir zur heißen Jahreszeit weiter im Büro schwitzen und das Parlament in den Ferien ist, tapst und kratzt und raschelt und flattert die Berliner Tierwelt wie gewohnt durch die Stadt. Wir nehmen uns von Woche zu Woche ein Berliner Wildtier vor. Jeden Dienstag vom 15. Juli bis zum 2. September erwarten Sie an dieser Stelle spannende Geschichten aus dem Großstadtdschungel!

Ungestörte Stadtnatur brauchen die kleinen Wildtiere nicht nur zum Schutz, sondern auch, damit es ihrer Nahrung gut geht. »Der Igel braucht erst mal was zum Fressen. Da braucht er eigentlich Käfer, Käferlarven und Regenwürmer«, sagt Berger. Der allgemeine Insektenschwund sei ein Problem. Deshalb sollten einheimische Pflanzen und dadurch einheimische Insekten gefördert werden.

Doch der Igel muss die Insekten auch finden – und am liebsten sucht er die Würmer und Larven unter der Erde. »Er riecht und hört sie dort. Er braucht aber Boden zum Buddeln. Wenn immer mehr versiegelt wird, dann hat er wenig Chancen, da nach Regenwürmern und Käfern zu buddeln«, sagt Berger. Und da reiche nicht etwa ein kleiner Garten. »Im Durchschnitt braucht ein Igel zwei Hektar Platz.« Den könne er sich durchaus mit anderen Igeln teilen. Wenn die Lebensbedingungen gut seien, dann kämen bis zu drei Igel auf einem Hektar vor. Aber den Platz braucht er, um Nahrung zu finden, zu schlafen und einen Partner zu finden. Deshalb ist die gefahrlose Durchlässigkeit von Gärten und Grünflächen für die Igel so wichtig.

Um das Wohlergehen der Berliner Igel sorgt sich auch Kerstin Müller, Tierärztin an der Klein- und Heimtierklinik in Zehlendorf. »Wir versorgen auch verletzte und kranke Igel«, sagt sie zu »nd«. Die Igel in der Klinik hätten etwa mit Verletzungen aus Unfällen zu kämpfen, darunter Auto- und Fahrradunfälle. Im vergangenen Jahr seien dazu Erkrankungen durch Parasiten auffällig gewesen, sagt Müller. Lungen- und Lungenhaarwürmer machten den kleinen Wildtieren besonders zu schaffen.

Daran sei bemerkenswert, dass die kleinen Wildtiere unter sehr starkem Befall mit heftigen Auswirkungen auf ihre Gesundheit litten, obwohl ernsthafte Symptome durch den Wurmbefall in der Regel bei fitten Tieren nicht auftreten sollten. »Dass die Igel klinisch stark erkranken, ist auffällig«, sagt Müller. Noch gebe es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, aber man habe in der Tierklinik bereits damit angefangen, die Igel vermehrt auf Lungenveränderungen und Würmer zu untersuchen.

Dass ein Igel Hilfe braucht, sei zunächst daran zu erkennen, dass er tagsüber zu sehen ist – das sei ungewöhnlich für die nachtaktiven Wildtiere. »Dann sollte man schauen, ob es einen guten Grund dafür gibt«, sagt Müller. Zum Beispiel, ob ein Holzstapel gerade weggeräumt und der Igel so verjagt wurde. Wenn das nicht der Fall ist und der Igel so aussieht, als gehe es ihm nicht gut, dann ab damit in die Tierarztpraxis, sagt Müller. Am besten soll man das kleine Wildtier für den Transport mit einem Handtuch aufnehmen und in einen ausgelegten Schuhkarton oder Ähnliches setzen.

Was für die Igel hingegen gar nicht gut sei, sei die Zufütterung mit Essen, das nicht artgerecht ist, zum Beispiel Katzenfutter. »Da stellt sich die Frage, ob Fütterung wirklich etwas bringt«, sagt Müller. Denn zumindest in ihrer Klinik sei bislang nicht festgestellt worden, dass die Igel in Berlin besonders unter Hunger leiden. Auch wenn die Igel-Liebe der Berliner*innen über das Ziel hinausschießt – dass viele der stacheligen Wildtiere von Anwohner*innen und Vereinen in die Klinik gebracht werden, zeigt, dass die Berliner Igel in der Hauptstadt sehr beliebt sind.

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