Darf’s beim Mindestlohn etwas weniger sein?

Nicole Mayer-Ahuja über die Mindestlohnerhöhung in Deutschland

Der Mindestlohn in Deutschland soll in zwei Stufen auf 14,60 Euro zum 1. Januar 2027 steigen.
Der Mindestlohn in Deutschland soll in zwei Stufen auf 14,60 Euro zum 1. Januar 2027 steigen.

»Wir stehen zum gesetzlichen Mindestlohn«, heißt es im Koalitionsvertrag. Und: »Ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 ist erreichbar.« Nun hat die Mindestlohn-Kommission entschieden: Ab Januar 2026 soll die gesetzliche Lohnuntergrenze auf 13,90 Euro steigen, ab Januar 2027 dann auf 14,60 Euro. Damit sei das Ziel letztlich nur knapp unterschritten, meint Dagmar Schmidt für die SPD-Bundestagsfraktion und sieht ein »gutes Signal, dass die Sozialpartnerschaft in Deutschland funktioniert«.

Dabei sind 15 Euro nicht irgendein Betrag. Erst ab dieser Schwelle kann man laut EU-Mindestlohnrichtlinie von einem »living wage« (existenzsichernder Lohn) sprechen. Unterhalb davon liegen armutsgefährdende oder gar Armutslöhne. Ist es ein »gutes Signal«, Beschäftigten das zuzumuten?

Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt in Deutschland aktuell über rund 30 Prozent des Gesamtvermögens. Noch größer ist die Kluft zwischen Arm und Reich nur in den USA. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) prahlte schon 2005: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« In der Tat haben seit den 1980er Jahren Bundesregierungen verschiedener Couleur prekäre Arbeit gezielt gefördert – durch Erweiterung der rechtlichen Spielräume für Befristungen, Leiharbeit oder »Minijobs«, aber auch durch immer mehr Druck auf Arbeitslose, solche Jobs anzunehmen. Und bis heute schnallt die Koalition aus Politik und Unternehmen abhängig Beschäftigten den Gürtel enger.

Konfliktfeld Arbeit

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut«  erscheint im September bei C.H. Beck.

Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns (2015) war das Eingeständnis, dass es so nicht weitergehen kann. Aus Sicht der Politik, denn die staatliche Subventionierung von Niedriglöhnen kostet Unsummen: Wenn Firmen am Lohn sparen, müssen Beschäftigte »aufstocken« und im Alter Sozialleistungen beziehen – die Kosten für private Gewinnmaximierung trägt die Gesellschaft. Aus Sicht von Gewerkschaften, die in weiten Teilen der Arbeitswelt keine Tarifverträge mehr durchsetzen konnten und deshalb (trotz Tarifautonomie) eine gesetzliche Lohnuntergrenze akzeptieren mussten. Und sogar aus Sicht mancher Unternehmen, die eher über Qualität als über Dumpinglöhne konkurrieren.

Zum Thema: Verschleiernde Zahlenspielchen – Die DGB-Rechtfertigung zur Mindestlohnerhöhung überzeugt nicht

Seitdem ist der Niedriglohnsektor kleiner geworden, betrifft aber immer noch mehr als 15 Prozent der Beschäftigten. Machen wir uns nichts vor: Auch von 15 Euro brutto könnten viele von ihnen die Miete kaum zahlen, und speziell Frauen in Teilzeit- oder »Minijob« würden Armut trotz Arbeit und Armut im Alter nicht entkommen. Doch selbst diese magere statistische Schwelle wird noch gerissen. Zudem kündigt Kanzler Friedrich Merz (CDU) im ARD-Sommerinterview erhebliche Einschnitte beim Wohngeld sowie eine »spürbare Senkung beim Bürgergeld« an. »Aufstocker« stellt er unter Verdacht, in organisierter Weise »Minijobs« mit Schwarzarbeit zu verbinden.

Das passt zu einer Politik, die den »Investitionsbooster« durch Sozialkürzungen gegenfinanzieren will. Verschenke Milliarden an Steuereinnahmen – spare ein paar Euro beim Paketboten oder der Kassiererin im Supermarkt. Die Wirtschaft kann man so nicht großmachen – aber Lohnabhängige kleinhalten.

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