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Hufeisensiedlung in Britz: Ein Glücksbringer für Mieter
Die Hufeisensiedlung in Britz wird 100 Jahre alt
In Berlin lässt es sich gut leben – wohnen nicht unbedingt. Spätestens mit der Industrialisierung wurde es vor allem für die arbeitende Bevölkerung an manchen Ecken eng und unbequem. So verbindet über Hinterhöfe und Generationen hinweg der Wunsch nach besserem, bezahlbaren Wohnen die Berliner*innen. Hoffnungsschimmer gibt es: architektonisches und städteplanerisches Umdenken, das auch für Menschen mit niedrigem Einkommen bauen will. Ein solches Projekt wird in diesem Jahr hundert Jahre alt. In Britz feiert man das Jubiläum der von Bruno Taut und Martin Wagner entworfenen Hufeisensiedlung und damit auch den Beginn des Sozialen Wohnungsbaus in Berlin.
Rund um die zentrale, namensgebende Gebäudegruppe in Hufeisenform an der Fritz-Reuter-Allee fand in der vergangenen Woche die Jubiläumsfeier statt. Mit geführten Touren, Salons in Privatwohnungen, Musik, Essen und Basteln ehren das Landesdenkmalamt, der Verein Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung und der Wohnungskonzern Vonovia sowohl das architektonische Erbe aus den Zwanziger Jahren als auch die heutige Nachbarschaft. Zum Abschluss am Samstagabend sagte Jochen Biedermann (Grüne), Bezirksbaustadtrat in Neukölln: »Wir feiern eine Siedlung, die schon zwei Drittel ihrer Zeit unter Denkmalschutz steht und die trotzdem total lebendig ist.«
Im Jahr 1925 begannen der renommierte Architekt Bruno Taut und sein Kollege und Baustadtrat Martin Wagner mit der Errichtung der Siedlung. Den eigentlichen Bau verrichteten Arbeiter*innen, für die die Siedlung in Britz eine neue Art des Wohnens darstellen sollte. Innerhalb von sieben Jahren wurden hier fast 2000 Wohnungen seriell im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtet. Jede Wohnung ist mit eigenem Garten oder Balkon ausgestattet. Durch Farben und moderne Formen gelang es den Schöpfern der Siedlung »die Serialität mit einer hohen Lebensqualität und einer hohen Individualität zu verbinden«, so Biedermann.
»Die Form des Hufeisens ist das beste Zeichen für Gemeinschaft«, sagt Sabine Ambrosius vom Landesdenkmalamt. Gemeinsam mit anderen Großsiedlungen der Moderne steht die Hufeisensiedlung symbolhaft für eine Modernisierung der Architektur in den 1920er Jahren. Architekten wie Walter Gropius, Le Corbusier oder Ludwig Mies van der Rohe entwerfen soziale Utopien des Wohnens, finden Formen für die neue Staatsform der Demokratie. »Das ist das, was hier so besonders ist: jeder hat den gleichen Blick«, sagt Ambrosius. Damit bleibt die Hufeisensiedlung bis heute ein Meilenstein eines gleichberechtigteren Bauens. Sie »war damals revolutionär und ist auch heute von zeitloser Qualität«, so Robert Gerß-Oestreich von Vonovia.
Dabei war die Hufeisensiedlung durchaus ein reformistisches Projekt: Sie war die erste Großsiedlung, die mit der 1924 von Baustadtrat Wagner eingeführten Hausszinssteuer finanziert wurde, die Immobilienbesitzer*innen verpflichtet, sich an öffentlich geförderten Bauten zu beteiligen. Biedermann erklärt, der profitorientiere, privatwirtschaftlicher Wohnungsbau sei seiner Zeit in einer Krise gewesen. Die unhygienischen Mietskasernen der Kaiserzeit fordern zum Umdenken auf. Wagners gewerkschaftsnahe, gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft GEHAG, heute Teil von Vonovia, gab eine Siedlung in Auftrag, die nicht nur auf Quantität und möglichst billiges Bauen setzte.
»Das ist das, was hier so besonders ist: jeder hat den gleichen Blick«
Sabine Ambrosius Landesdenkmalamt
Dank zu hoher Mieten lebten letztendlich allerdings kaum Arbeiter*innen, sondern Angestellte und Beamt*innen in der Siedlung in Britz. Vielen Bewohner*innen der als linke Hochburg bekannten Siedlung blieb mit der Wahl der Nationalsozialisten ein Jahr nach der Fertigstellung der Siedlung nur die Flucht. Im Jahr 1934 wurde der anarchistische Schriftsteller und ehemalige Bewohner Erich Mühsam im Konzentrationslager Oranienburg ermordet. Zwischen 1935 und 1938 lebte der Kriegsverbrecher Adolf Eichmann in der Hufeisensiedlung. Die GEHAG, nun nationalsozialistisch weitergeführt, errichtete im Krieg eine Barracke für 18 Zwangsarbeiter*innen, die die Siedlung pflegten.
Die Gebäude immerhin überlebten den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet und wurden 1990 saniert und unter Denkmalschutz gestellt. Gemeinsam mit fünf anderen Großsiedlungen gehört die Hufeisensiedlung auch zum Unesco-Welterbe, eine weitere historische Wende. »2008 war das eine Revolution, weil es kaum Welterbestätten aus dem 20. Jahrhundert gibt«, sagt Ambrosius. Mit der Kennzeichnung kamen auch neue Hindernisse dazu. So können die denkmalgeschützten Fassaden nicht ohne Weiteres saniert werden. »Die Vereinbarkeit von Denkmalschutz und Klimaschutz ist kein Widerspruch«, so Gerß-Oestreich. »Sie ist unsere gemeinsame Aufgabe.«
Die Aktualität von Tauts und Wagners Ansätzen ist nicht nur im Denkmal präsent. Biedermann sagt im historischen Rückblick, in Berlin habe man bei enormer Wohnungsnot neue Antworten gesucht. »Das kommt uns heute ja sehr bekannt vor.« Heute liegt die Hufeisensiedlung in der Hand des umstrittenen Konzerns Deutsche Wohnen. In Berlin fehlen mehr als doppelt so viele Wohnungen wie nach dem Ersten Weltkrieg und eine Umverteilung des Besitzes von privaten Immobilieneigner*innen wird heute wie damals gefordert. Zum Hundertjährigen Jubiläum feiert man nicht nur das aktuelle Leben in der Hufeisensiedlung. Sie erinnert auch daran, auf welche Geschichte der Kampf um faires Wohnen zurückblicken kann.
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