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Florian Lipowitz: Das Wunderkind, das keines ist
Der 24-jährige Quereinsteiger fährt bei seiner ersten Tour de France mitten in die Herzen der Radsport-Welt
Als »neues deutsches Wunderkind« beschreibt die englischsprachige Sportpresse Florian Lipowitz, ganz in der Tradition, in der früher auf Boris Becker oder Michael Schumacher geschaut wurde. Seine Version des »Becker-Hechts« – ein im Hechtsprung geschlagener Volley des einstigen Tennisprofis – zeigte Lipowitz bei dieser Tour de France auch. Es ist die Attacke mitten ins Herz von zaudernden Rivalen. Zweimal setzte er dieses Mittel bei der Frankreich-Rundfahrt 2025 ein. Auf der 18. Etappe am vergangenen Donnerstag attackierte er am Col de la Loze, fuhr bis zu drei Minuten auf Tadej Pogačar und Jonas Vingegaard heraus – nur um am Ende von diesen nicht nur eingeholt, sondern sogar überholt zu werden. Im Schatten der zwei Großen pirschte sich auch der Schotte Oscar Onley näher an Lipowitz heran. Der Profi vom Rennstall Picnic war Lipowitz’ härtester Gegner um Platz drei und das Weiße Trikot des besten Jungprofis. Um im Tennisjargon zu bleiben: Dieser Becker-Hecht landete im Netz.
Florian Lipowitz zeichnet aber aus, dass er sich den Mut nicht nehmen lässt, sondern aus seinen Fehlern lernt. Schon am Tag nach seiner gescheiterten Attacke war seine Beschleunigung besser gesetzt. Auf der 19. Etappe zog er genau in jenem Moment an, als Onley, der vor ihm fuhr, Schwächen zeigte. Lipowitz stürmte erneut an Pogačar und Vingegaard vorbei. Die folgten ihm diesmal. Lipowitz wollte sie auch gar nicht abhängen, sondern nur das Tempo der kleinen Favoritengruppe forcieren. »Ich fand es genial, weil Florian sehr schnell reagiert hat. Oscar ist explodiert. Dann eine Lücke aufzureißen, war eine gute Überlegung von ihm«, feierte Rolf Aldag, der Teamchef von Red Bull – Bora – hansgrohe, den Renninstinkt seines Schützlings.
Vom Schigymnasium zur WorldTour
Als Wunderkind sollte man ihn dennoch nicht bezeichnen. Zwar ist Lipowitz erst seit sechs Jahren so richtig im Radsport aktiv. Seit dem Alter von acht Jahren betreibt er aber einen anderen Ausdauersport: Biathlon. »In der Nähe meines Heimatortes bei Ulm gibt es eine Biathlon-Anlage – die wollte ich einmal ausprobieren. Also bin ich einfach einmal zu einem Probetraining gegangen. Die Kombination aus dem Langlaufen, der Ausdauer, der Geschwindigkeit, und der Präzision beim Schießen hat mich sofort fasziniert«, blickt der 24-Jährige auf diese Anfänge zurück. Er brachte es im Biathlon bis zum deutschen Schülermeister. Gemeinsam mit seinem ein Jahr älteren Bruder Philipp ging er auch ans renommierte Schigymnasium Stams. Dort hält er, wie ein früherer Trainer unlängst verriet, noch immer einen Schulrekord im Liegendschießen.
Verletzungen am Knie und an der Achillessehne brachten ihn dann dem Radsport näher. Mit dem Rad war er ohnehin vertraut, weil er mit seiner Familie als Hobby den einen oder anderen Radmarathon bestritten hatte und zu Sommerwettkämpfen im Biathlon auch schon mal mit dem Rad quer über die Schwäbische Alb fuhr, 100 Kilometer hin und 100 Kilometer zurück. Die Ausdauer war also da. Die Lust, sich zu quälen, offensichtlich unbegrenzt. Auf eigene Initiative meldete sich Lipowitz beim deutschen WorldTour-Rennstall. Und bevor die Scouts anderer Teams überhaupt auf ihn aufmerksam werden konnten, hatte er schon einen Vertrag bei Tirol KTM, dem ehemaligen Entwicklungsteam von Red Bull – Bora – hansgrohe.
Stärker als der eigene Teamkapitän
Seit 2023 fährt Lipowitz in der WorldTour. Seit 2024 sorgt er dort für Furore, im Herbst letzten Jahres etwa mit Gesamtplatz sieben bei der Vuelta a España an der Seite von Teamkollege und Gesamtsieger Primož Roglič. Auch die Tour de France sollte er zunächst an der Seite des slowenischen Teamkapitäns bestreiten. Nicht mehr als Helfer und Lernender wie vor Jahresfrist in Spanien, sondern in einer freien Rolle.
Diese Freiheit nutzte der Tour-Neuling bekanntlich hervorragend aus. Lipowitz musste nicht mehr wie noch bei der Vuelta auf seinen Kapitän warten. Er konnte selbst entscheiden, was er tun will. Und bereits in den Pyrenäen zeigte sich, dass sein Leistungsniveau inzwischen über dem von Roglič liegt. Den gebürtigen Schwaben zeichnet aber aus, dass er sich nicht über den Slowenen stellte. Sein Respekt und seine Loyalität gingen soweit, dass er dem 35-Jährigen sogar den dritten Platz überlassen hätte, sollte einer seiner Angriffe mal sitzen. Roglič versuchte es auch. Sein Stern verblasst aber überraschend schnell in dieser Saison. Lipowitz ist jetzt der Siegfahrer des deutschen Rennstalls für die großen Rundfahrten. Platz zwei bei der Fernfahrt Paris – Nizza in diesem Frühjahr und Platz drei bei der Dauphiné, dem Vorbereitungsrennen auf die Tour, deuteten das bereits an.
Als Dritter nach Paris
Dass Lipowitz nun auch als Dritter der Gesamtwertung nach Paris fährt, ist der nächste Schritt hin zu einem großartigen Rundfahrer. Bis zum Niveau von Pogačar und Vingegaard fehlt ihm zwar noch etwas, das gibt er selbst zu. Aber der 24-Jährige hat noch Entwicklungspotenzial. Und mit seiner Entschlossenheit, seiner Ausdauer, seinem schon jetzt ausgeprägten Renninstinkt und vor allem seiner außerordentlichen Lernfähigkeit dürfte er in Zukunft noch für zahlreiche besondere Momente sorgen.
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