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Die »Nr. 1 der Wohnprivatisierung«

In Weißenfels in Sachsen-Anhalt nähert sich eine jahrelange Entmietung ihrem Höhepunkt

Die Situation am Kornwestheimer Ring in Weißenfels Ende Juli
Die Situation am Kornwestheimer Ring in Weißenfels Ende Juli

Eine junge Frau, die Yogaübungen vor einer hohen Fensterfront durchführt. Zwei Männer, die auf dem Dach eines Gebäudes einen Sonnenuntergang über der Stadt genießen. Ein süßer kleiner Hund, der an einem Sofakissen knabbert. Aufnahmen eines toprenovierten Luxusbadezimmers. Darüber der Slogan: »Wir bringen Immobilien in ihr Leben«. Das sind die ersten Bilder, die über den Bildschirm flimmern, öffnet man die Website der Accentro GmbH. Darunter wirbt der Immobilienkonzern: »Nr. 1 bei der Wohnungsprivatisierung«.

Anders sehen die Fotos aus, die Eric Stehr, Stellvertetender Landesvorsitzender von Die Linke in Sachsen-Anhalt und Stadtrat in Weißenfels, Ende Juli auf der Plattform Facebook veröffentlicht. Die Plattensiedlung am Kornwestheimer Ring in der Neustadt, einem Viertel in Weißenfels, bekannt für Lebensmittelindustrie, sieht merklich heruntergekommen aus. Um die Gebäude türmen sich Müll, Elektroschrott und alte Möbelstücke, es scheint offene Feuerstellen gegeben zu haben. Unter einem Baum wurde offenbar sogar eine alte Kutsche zurückgelassen. Ähnlich vernachlässigt wirken die verlassenen Gänge der Gebäude. Ende Juli sollen die letzten Mieter*innen ihre Wohnungen verlassen.

Stehr ist vor Ort, weil den Anwohner*innen dort Mitte April der Strom und das Warmwasser abgedreht worden sein soll, wie die »Mitteldeutsche Zeitung« berichtete. Die Stadtwerke Weißenfels Energienetze GmbH sei demnach aufgrund einer möglichen »Gefahr für Leib und Leben« durch manipulierte Anlagen aktiv geworden. Der Objektverwalter habe auf mehrmalige Hinweise nicht reagiert. Auf eine diesbezügliche »nd«-Anfrage meldete sich der Eigentümer, der Top-Privatisierer Accentro, ebenfalls nicht zurück.

»Alles, was in dem Zusammenhang passiert, wirkt sehr geplant.«

Eric Stehr Die Linke Sachsen-Anhalt

Der Politiker Stehr spricht von »kalter Entmietung«, also einem Vorgang, bei dem Vermieter die Gebäude bewusst verfallen lassen, um Bewohner*innen zum Auszug zu bringen. »Alles, was in dem Zusammenhang passiert, wirkt sehr geplant. Die Gegend gilt seit Jahren als Problemviertel, die Wohnblöcke sollen schon lange abgerissen werden«, sagt er. Der schlüssigste Hinweis für ihn: Weder der Vermieter noch die Stadt griffen nach der Stromabstellung ein. »Auf meine Nachfrage im Stadtrat wurde beschwichtigt, als löse sich das Problem von selbst«, erzählt Stehr.

Tatsächlich zeigt ein Blick in die Flächennutzungspläne der Stadt: Spätestens seit 2015 ist der Abriss des Kornwestheimer Rings ein Fixum in den Landschaftsplänen. Im sogenannten »Integrierten Städtebaulichen Entwicklungskonzept« (INSEK) von 2021 steht zum Stadtteil Kornwestheimer Ring: »Städtebauliches Ziel ist die Aufgabe des Wohnstandortes und die anschließende Entwicklung einer Grünfläche.« Das INSEK ist der offizielle Handlungsrahmen »für die weitere städtebauliche Entwicklung der Stadt Weißenfels und ihrer Ortschaften für die nächsten Jahre«.

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Berichte über Probleme in den Blöcken gab es bereits 2017, bis 2020 teilten die kommunale Wohnungsbauverwaltung Weißenfels (WVW) und die Wohnbaugenossenschaft Weißenfels/Saale (WBG) die sechs Plattenbauten zu gleichen Teilen untereinander auf. Vor etwa zwei Jahren waren die Gebäude der WVW abgerissen worden, die WBG verkaufte ihre an die Lekova 12 GmbH, heute Accentro Dessau Wohnen GmbH. Sie teilt sich wiederum ein Impressum mit der Accentro GmbH, jenem Immobilienkonzern, der sich selbst als der Top-Wohnprivatisierer Deutschlands definiert.

Laut INSEK-Beschreibung des Standorts von 2021 sei damals ein »starker Zuwachs an der Bevölkerung nicht deutscher Herkunft« festgestellt worden. Der Anteil der Erwerbstätigen in den Platten lag bei 76 Prozent und begründete sich vor allem durch Angestellte des benachbarten Betriebsgeländes des Schlachthofs der Firma Tönnies.

Diese hegte laut Berichten Pläne, mehr Wohnungen in den Accentro-Gebäuden anzumieten, geriet aber 2020 während der Corona-Pandemie aufgrund der Wohn- und Arbeitsverhältnisse der Angestellten in die Kritik. Auf die Debatte folgte das Aus für Werkverträge in der Fleischindustrie, mit den festen Arbeitsverträgen gingen neue Mietverträge einher, und der Deal zu den Gebäuden am Kornwestheimer Ring kam nicht zustande. Auf »nd«-Nachfrage zu den damaligen Gründen reagierte Accentro nicht.

Indes stieg der Leerstand, der Kornwestheimer Ring geriet immer weiter in Verruf, und die Ressentiments innerhalb der Gesellschaft stiegen. In Berichten der »Mitteldeutschen Zeitung« beschwerten sich Anwohner*innen über den migrantischen Zuzug, die Weißenfelser CDU-Landtagsabgeordnete Elke Simon-Kuch wollte als Maßnahme einen »Workshop für Gastarbeiter zur Müllentsorgung in Deutschland« organisieren.

»Die Verschmutzungsprobleme sind zum Teil auf die Mieter zurückzuführen, aber auch auf die untätigen Vermieter und die Stadt«, sagt Stehr. Laut Erzählungen der Mieter*innen werde der Müll zum Teil auch von externen Personen angefahren. Generell sei die Situation nicht so schlimm, wie oft getan werde, scheint es Stehr. »Die Neustadt ist das einzige Stadtviertel in Weißenfels, wo ich im Sommer Kinder auf der Straße spielen sehe.«

Aus der Kommunalaufsicht des Burgenlandkreises heißt es dazu gegenüber »nd«, sie sei über die Situation und Problematik rund um den Kornwestheimer Ring in Weißenfels informiert. Seitens der Kommunalaufsicht liege hier aber keine Zuständigkeit vor. »Die betreffenden Blöcke befinden und befanden sich nicht in städtischem Besitz bzw. eines kommunalen Wohnungsunternehmens. Die Stadt Weißenfels ist hier also nicht beteiligt – dementsprechend liegt kein rechtswidriges Handeln der Stadt Weißenfels vor, so dass ein Einschreiten der Kommunalaufsicht des Burgenlandkreises nicht erforderlich ist.«

Ende Juli trifft Stehr noch zwei Senioren und drei Familien mit Kindern in den Gebäuden an. Der Rest der Mieter*innen hat die Häuser inzwischen verlassen. Ob auf der laut Entwicklungskonzept geplanten Grünfläche wohl auch bald Kinder spielen werden?

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