Winston Churchill: Hitler-Feind und Imperialist

Franziska Augstein kennt alle Churchill-Anekdoten

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Jahr 1929 war Churchills politische Karriere beendet. Eigentlich.
Im Jahr 1929 war Churchills politische Karriere beendet. Eigentlich.

Am 8. Mai 1945 steht Winston Churchill, 70 Jahre alt und seit fünf Jahren Premierminister der Kriegskoalition, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Um 15 Uhr Ortszeit verkündet er »Victory in Europe« – der Krieg gegen Japan sollte noch mehr als drei Monate andauern. Nach fast zehn Jahren waren Unterhauswahlen überfällig, die am 5. Juli 1945 stattfanden. Churchill nahm ab dem 17. Juli an der Potsdamer Konferenz mit Stalin und Truman teil. Es schien kaum vorstellbar, dass er dort nicht an den Verhandlungstisch zurückkehren würde. Doch anstelle des charismatischen, oft bombastisch auftretenden Churchill kam am 28. Juli der leise, unscheinbare, konsensorientierte Clement als neuer britischer Premier nach Potsdam. Für die Mehrheit der britischen Wähler*innen war dies eine rationale Entscheidung: Churchill mochte der richtige Kriegspremier gewesen sein, für den dringend gewünschten Sozialstaat und Wiederaufbau war er ungeeignet.     

1874 in die Familie der Herzöge von Marlborough hineingeboren, Sohn eines konservativen Ministers und einer wohlhabenden US-Amerikanerin, führte Winston Spencer Churchill ein abenteuerliches Leben. Er wurde Berufssoldat, Kriegsreporter, Vielschreiber und Parlamentarier. 1904 wechselte er von den Konservativen zu den Liberalen; er unterstützte ihre fortschrittliche Sozialpolitik, machte sich aber als Innenminister bei den Gewerkschaften verhasst, als er gewaltsam gegen Streikende in Südwales vorging.

Nach der blutig gescheiterten Gallipoli-Offensive musste er als Marineminister 1915 zurücktreten. In verschiedenen Ministerposten verfocht er bis 1922 zeitweilig eine militärische Intervention gegen die Bolschewiki in Russland und einen harten Kurs gegen den irischen Unabhängigkeitskampf. 1924 wechselte er zu den Konservativen zurück und erwies sich als wenig kompetenter Schatzkanzler. Das Ende der konservativen Regierung 1929 schien auch Churchills Ende als Spitzenpolitiker zu sein.

Churchills Haltung war oft rassistisch eingefärbt. Aber die antisemitische Politik der Nazis verabscheute er.

Gegenüber Mussolini zeigt er zunächst gewisse Sympathien. Die Nazis aber lehnte er entschieden ab. Ende der 1930er Jahre war Churchill einer der wenigen der britischen Rechten, der Hitler-Deutschland für die größte Bedrohung Großbritanniens hielt. Im Mai 1940 löste er Chamberlain als Premierminister ab. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 setzte er ganz auf ein Bündnis mit Stalin, den zu umschmeicheln ihm fast ebenso wichtig war wie das Umwerben von US-Präsident Franklin D. Roosevelt.

Nach der Wahlniederlage im Juli 1945 wurde Churchill Oppositionsführer, überließ die Arbeit aber Antony Eden. Im Oktober 1951 gewannen die Konservativen einen knappen Wahlsieg, Churchill wurde erneut Premierminister, doch war er aus gesundheitlichen Gründen ab 1953 kaum noch arbeitsfähig. Widerwillig überließ er schließlich 1955 Eden das Amt.

Franziska Augstein zitiert den großen marxistischen Historiker Eric Hobsbawm, alles, was Churchill getan habe, sei schlecht gewesen. »Nur eines habe er ordentlich gemacht: Er habe die Nation gut durch den Zweiten Weltkrieg geführt.« Die Autorin mag diesem Diktum nicht ganz folgen, doch ist es durchaus plausibel. Churchill selbst prägte im Juni 1940 die berühmte Formulierung von der »finest hour«, der besten und würdigsten Phase ihrer Geschichte, die der britische Abwehrkampf gegen die Nazis werden könne.

Natürlich hat Churchill nicht alleine das Überleben Großbritanniens gesichert, aber er war der wichtigste Inspirator des Widerstandswillens. Spätestens ab 1943 wird Churchills Rolle zunehmend problematischer, als Verlässlichkeit und Nachkriegsplanungen wichtiger als Kriegsrhetorik werden.

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Franziska Augstein, Journalistin und promovierte Historikerin, hat ein voluminöses und doch unterhaltsames Buch vorgelegt. Die vielen Anekdoten sind amüsant, gehen aber nicht selten zu Lasten inhaltlicher Substanz. Augstein betont, dass sie eine Biografie der Person, keine historische Zeitbeschreibung liefern wolle. Doch ist das Leben Churchills in erster Linie wegen seines politischen Wirkens von Interesse.

Zu den stärksten Passagen gehört das Schlusskapitel »Tod und Verklärung«, das die Churchill-Rezeption beschreibt und auch die scharfe postkoloniale Kritik an ihm, hinsichtlich etwa seiner Indien-Politik, aber auch seines vermeintlichen Antisemitismus. Churchill war sicherlich stark von Stereotypisierungen geprägt, doch verabscheute er die antisemitische Politik der Nazis und stand dafür ein, den Nazis nicht freie Hand in Europa zu lassen – die Wirkungen eines politischen Handelns sind wichtiger als subjektive Haltungen und hässliche Bemerkungen.

Auch Churchills Haltung gegenüber Indien und den britischen Kolonien, die unzweifelhaft imperialistisch und rassistisch eingefärbt war, ist in erster Linie mit Blick auf seine Handlungen zu betrachten. Zu den düstersten Ergebnissen seiner Regierungszeit gehört denn auch die schreckliche Hungersnot im indischen Bengalen, der 1943 zwischen einer und vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Auch wenn der gelegentlich erhobene Genozid-Vorwurf einer Überprüfung kaum standhält, so trägt die britische Regierung sicherlich eine erhebliche Mitverantwortung. Rassistische Überlegenheitsvorstellungen und kolonialer Imperialismus sind nicht die wichtigste Ursache, aber sie haben sie begünstigt.

Franziska Augstein: Winston Churchill. Biografie. 615 S., geb., 30 €.

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