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Die Hoffnung ist weg
Ein funktionierender Staat Palästina scheint so weit entfernt wie nie zuvor
Am Abend des 25. Januar 2006 herrschte in Ost-Jerusalem, im Westjordanland und im Gazastreifen Euphorie: Die Menschen hatten ein Parlament gewählt, zum ersten Mal überhaupt, ohne Zwischenfälle, frei, geheim, demokratisch. Und alle waren sich einig: Das wird was. Die palästinensischen Autonomiegebiete waren auf dem Weg zur Demokratie. Ein eigener Staat schien eine Frage der Zeit.
Nun, fast 20 Jahre später, haben bereits mehr als 140 der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen Palästina anerkannt. Frankreich kommt demnächst hinzu. Und auch in Deutschland und Großbritannien wird darüber diskutiert. Nur die Euphorie, sie ist nicht mehr da. Ein funktionierender Staat Palästina scheint so weit weg wie nie zuvor; die Liste der Probleme ist lang: Die Zerstörungen im Gazastreifen sind immens, das Land verseucht, das Grundwasser nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wahrscheinlich nur noch zu etwa einem Prozent genießbar. Weil die Leute es trotzdem trinken, versuchen, dem Boden etwas abzugewinnen, hat fast die gesamte Bevölkerung dort ein erhöhtes Krebsrisiko. Dann sind da die israelischen Siedlungen, die im Laufe der Zeit mehr geworden sind. Und neben alledem ist die Demokratie weg.
Ihre Abschaffung begann bereits, als ein Vertreter der Wahlkommission am 25. Januar 2006 vor laufenden Kameras die Wahlergebnisse verkündete: Während ein Sitz nach dem anderen an die damalige Wahlliste der Hamas ging, wurden die westlichen Diplomaten, von denen ebenfalls viele im Publikum saßen, nervös. Schnell gingen bei den Nachrichtenagenturen die ersten Statements ein: Die Hamas dürfe keinesfalls an einer palästinensischen Regierung beteiligt werden; in den USA und auch in Deutschland forderten bereits wenige Minuten, nachdem die Nachricht die Runde gemacht hatte, die ersten Politiker eine Einstellung der Hilfszahlungen an die Autonomiebehörde.
Heute ist aus der palästinensischen Autonomiebehörde, der palästinensischen Regierung, ein nur mit extremer Mühe zu entwirrendes Chaos geworden. In Ramallah regiert seit 2005 Präsident Mahmud Abbas per Dekret. Ein Parlament gibt es schon seit 2010 nicht mehr; seine eigene Amtszeit lief bereits 2009 aus. Zwischen seiner Fatah-Fraktion, die die größte Gruppe innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ist, und der Hamas herrscht tiefe Feindschaft. Mitte 2007 hatte sie die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen, nachdem Abbas nicht, wie in der Verfassung vorgesehen, einen Vertreter der größten Parlamentsfraktion mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Im Laufe der Zeit bildeten sich zwei völlig unterschiedliche Rechtssysteme im Gazastreifen und im Westjordanland, und auch zwei Regierungs- und Verwaltungssysteme, die auf merkwürdige Weise gleichzeitig miteinander verbunden und doch voneinander getrennt sind. So zahlte die Autonomiebehörde vor dem Krieg die Löhne von Mitarbeitern der Hamas-Ministerien und gleichzeitig die Gehälter ihrer eigenen Mitarbeiter, obwohl die längst anderen Jobs nachgingen. Die Abbas-Regierung hatte ja im Gazastreifen längst nichts mehr zu sagen.
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Nun ist ein Großteil der militärischen und politischen Führung der Hamas tot oder im Untergrund. Die Regierungsstrukturen in Gaza sind weitestgehend zerstört. Palästinensische Journalisten vor Ort berichten übereinstimmend von kriminellen Banden, die die Kontrolle über Teile von Gaza-Stadt übernommen haben. Eigentlich bräuchte man schon jetzt einen Plan, wer diesen Landstrich künftig wie regieren soll.
Nachfragen bei den Außenministerien Spaniens, Irlands und Frankreichs zeigen: Die Anerkennung Palästinas ist eine Sache. Eine Idee, wie es weitergehen soll, scheint man nicht zu haben. Dafür hat Alam al Saka einen Plan: »Wir könnten innerhalb kürzester Zeit unsere eigenen Polizisten nach Gaza schicken«, sagt der Polizeichef der Autonomiebehörde. Doch dafür bräuchte es Geld, Waffen und Ausrüstung. Denn auch im Westjordanland haben viele Polizisten gekündigt: Die Autonomiebehörde konnte sie nicht mehr bezahlen. Für al Saka ist aber auch klar: »Der Gedanke, Sicherheitskräfte aus anderen arabischen Ländern nach Gaza zu schicken, wird nicht funktionieren. Und die Idee, den Clans vor Ort die Macht zu geben, ist schierer Wahnsinn.« Das würden viele in Israels Regierung am liebsten tun: Die Chefs der Großfamilien sollten ihrer Ansicht nach eine Art Regierungsrat bilden. Schon jetzt hat man mit Zustimmung von Regierungschef Benjamin Netanjahu damit begonnen, einzelne Gruppen, von denen einige von den ägyptischen Behörden der organisierten Kriminalität zugeordnet werden, mit Waffen auszurüsten.
Auf die wachsende internationale Anerkennung regiert Israels Regierung wie immer: mit strikter Ablehnung. Dabei geht es traditionell nicht vor allem um die Sicherheit des Staates, sondern um Innenpolitik. Die Siedler haben eine starke Lobby; Netanjahu selbst braucht ihre extremsten Teile, drei Parteien, die der extremen Rechten zugeordnet werden, sogar zwingend, um an der Macht zu bleiben.
2006 waren sich alle einig: Das wird was.
Und was passiert, wenn ein israelischer Regierungschef den Schritt geht, zeigte sich vor dem Sommer 2005: In den Behörden wurde etwas bis dahin nicht dagewesenes geplant – alle Siedlungen im Gazastreifen und vier im nördlichen Westjordanland sollten geräumt werden. Die öffentliche Zustimmung war groß. Die Gegenwehr der Rechten gigantisch. Vor laufenden Kameras wurden Kinder und Frauen aus den Häusern getragen; jahrelang mussten ehemalige Bewohner in Wohncontainern ausharren. Am Ende war der Gazastreifen komplett unter Kontrolle der Autonomiebehörde, theoretisch: In Ramallah hatte der gerade erst gewählte Abbas kaum etwas unternommen, um das auch umzusetzen.
Was passieren müsste, um Palästina wirklich lebensfähig zu machen, ist um ein Vielfaches gigantischer: Hunderttausende Israelis leben mittlerweile in den Siedlungen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Ständig kommen neue hinzu, denn Netanjahus Regierung forciert den Siedlungsbau wo es nur geht. Die Autonomiegebiete sind von israelischen Siedlungen unterbrochen. Ob es überhaupt noch möglich ist, so viele Siedlungen zu bauen, dass man einen zusammenhängenden Staat bilden könnte? Sicher scheint: Eine Koexistenz ist für viele Palästinenser ausgeschlossen. Die Siedler werden radikaler, befeuert durch die Regierungsbeteiligung der beiden ultrarechten Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir. Die Angriffe auf Palästinenser häufen sich.
Damals, vor 20 Jahren, schien im Grunde alles Verhandlungssache zu sein. Im American Colony, einem schicken Hotel in Ost-Jerusalem, saßen abends Mitarbeiter der israelischen und der palästinensischen Regierungen zusammen und diskutierten die Möglichkeiten: Das Westjordanland und Gaza sollten durch eine Bahnlinie verbunden werden, denn auch das ist ein Problem. Irgendwie muss die Bevölkerung zwischen den beiden Landesteilen reisen können. Zeitweise gab es einen Straßenkorridor durch israelisches Gebiet. Aber der bewährte sich nicht. Die Kontrollen waren zu aufwändig, das Misstrauen zu groß. Denn über allem stand immer die Bedrohung durch die Hamas. Anfang der Nullerjahre versetzte eine Anschlagsserie Israel in Angst und Schrecken. Man begann, das Sperrwerk aus Mauern und Zäunen um das Westjordanland zu bauen. Auch der Zaun um den Gazastreifen wurde undurchlässiger. War es ursprünglich noch recht problemlos möglich, zwischen Israel und Gaza zu reisen, war das irgendwann nur noch für Ausländer möglich.
Die Pläne für die Bahnlinie sind noch da; es gibt sogar Machbarkeitsstudien. Doch alles, was es für einen funktionierenden Staat Palästina oder eine Einstaatenlösung oder einen Bundesstaat bräuchte, kostet Geld und Zeit und Gesprächsbereitschaft. Nichts davon ist vorhanden. Niemand weiß, wer die vielen Milliarden, die der Wiederaufbau Gazas kosten wird, stemmen soll. Und dann bleiben immer nur maximal vier Jahre, denn so lange dauert es, bis in Israel neu gewählt wird. So lange ist auch die Haltbarkeit einer Absprache.
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