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Revolution und Komposition
Anmerkungen zu Dmitri Schostakowitsch anlässlich seines 50. Todestags (Teil 1)
Das Blech schmettert einen veritablen Tusch, die Trommeln wirbeln, das Orchester setzt mit aller Macht ein und steigert sich chromatisch Schritt für Schritt, bis sich die festliche Musik auf ihrem Höhepunkt entlädt. Ja, sind wir denn bei Olympia?
Die Älteren werden sich vielleicht erinnern: Die »Festliche Ouvertüre op. 96«, von Dmitri Schostakowitsch 1954 für die Feierlichkeiten des Bolschoi-Theaters zum 37. Jahrestag der Oktoberrevolution komponiert, war 1980 das musikalische Signatur-Thema, der Titeltusch der Olympischen Spiele in Moskau. Es ist eine exzellent komponierte musikalische Scheußlichkeit, eine Dur-trunkene Hochglanzmusik, bis dann die spielerische Klarinettenmelodie auftaucht und das Fest in eine Art munteren Zeichentrickfilm zu überführen scheint.
Ann-Katrin Zimmermann hat auf die Doppelbödigkeit dieser Melodie hingewiesen, die Schostakowitsch auch in seiner Oper »Lady Macbeth von Mzensk« verwendet hat und dort dem Trunkenbold zuordnet, der den ermordeten Gatten entdeckt, die Polizei alarmiert und das rauschende Hochzeitsfest der Lady verdirbt. Doch gemach, hier in der Ouvertüre geht nichts schief, alles endet nach gut fünf Minuten in erneutem mächtigen Dur-Zinnober voller Champagnerbrillanz.
Im Mai hatte das Leipziger Gewandhausorchester diese »Festliche Ouvertüre« an den Beginn seines 18-tägigen Schostakowitsch-Festivals gesetzt. Es war eine mutige, aber ebenso einleuchtende Entscheidung, zeigt dieses merkwürdige Stück doch einen Komponisten, der durchaus bereitwillig und gerne Auftragsmusik zu öffentlichen Anlässen schrieb, und auch, dass Schostakowitsch der Sowjetunion zeitlebens loyal verbunden blieb – trotz alledem. Bis heute ist die »Festliche Ouvertüre« eines der in Russland meistgespielten Stücke des Komponisten und eines von nur zwei Werken, die der Meister jemals selbst dirigierte.
Dmitri Schostakowitsch starb am 9. August 1975 in Moskau im Alter von 68 Jahren. Im Westen ist ein Narrativ entstanden, in dem der Name Schostakowitsch kaum jemals ohne seinen Antipoden Stalin genannt wird. Dies ist vor allem den fragwürdigen »Memoiren« zuzuschreiben, die Solomon Volkov 1979 in den USA und der BRD veröffentlichte und die nach allem, was man mittlerweile weiß, wohl eine Fälschung darstellen. Seine Witwe Irina Antonovna Schostakowitsch erzählte später, Volkov habe ihren Mann »vielleicht drei oder vier Mal getroffen«: »Er war nie ein enger Freund. Er kam nie zum Essen zu uns. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie er so viel Material für solch ein dickes Buch gesammelt haben will.«
Schostakowitschs Sohn Maxim sagte 1981 nach seiner Flucht in den Westen, Volkovs Buch sei »ein Buch über meinen Vater, nicht von meinem Vater«. Fünf Jahre später wusste Maxim, was man im Westen hören wollte, und erklärte in einem BBC-Interview, das Buch sei akkurat in der Beschreibung der Härten des Lebens unter totalitärer Herrschaft. Die Slawistin Brigitte van Kann hat im Deutschlandfunk darauf hingewiesen, dass Volkov das angebliche, vom Komponisten signierte Originalmanuskript nie vorgelegt hat, und auch Tagungen zum Thema sei er ferngeblieben. Sie bezeichnet diese vermeintlichen Memoiren, aufgeschrieben von Volkov, als »Farce«, als eine – immerhin – »geniale Fälschung«.
Letztlich fußt auch Julian Barnes’ Schostakowitsch-Roman »Der Lärm der Zeit« (2016) auf Volkovs Fake-Memoiren. Barnes konstruierte dafür ein sprechendes Bild: »Sie holten einen immer mitten in der Nacht. Also legte er sich, um nicht im Schlafanzug aus der Wohnung gezerrt zu werden, lieber voll bekleidet ins Bett, oben auf die Decke, einen fertig gepackten kleinen Koffer neben sich auf dem Boden.« Wenig später verbringt der Komponist seine schlaflosen Nächte, auf Stalins Schergen wartend, vor der Wohnungstür, neben dem Fahrstuhl, monatelang. Das ist ein gut erfundenes, stilisiertes Bild in einem Roman, das aber der Wirklichkeit entbehren dürfte. Durchaus wahrscheinlich, dass der Komponist gerade in den Jahren der furchtbaren stalinistischen »Säuberungen« mit seiner Verhaftung zu rechnen hatte. Mag sein, dass er auch einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt hatte. Alles andere aber ist eben erfunden, auch wenn dieses Bild in vielen Texten zu Schostakowitsch mittlerweile als reale Tatsache verwendet wird.
Die Wahrheit dürfte komplizierter sein. Man kann getrost davon ausgehen, dass Schostakowitsch nicht nur ein veritabler Antifaschist war, wie sich nicht zuletzt in der großen Siebten, seiner faszinierenden »Leningrad«-Sinfonie zeigt. Er schrieb sie im Angesicht und im Bewusstsein der 900 Tage währenden Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, eines der großen Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands, und widmete sie »unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind und Leningrad, meiner Heimatstadt«. Dafür erhielt er den Stalinpreis.
Diese 7. Sinfonie machte weltweit Furore: Leopold Stokowski dirigierte sie 1943 in einem US-Militärcamp vor Tausenden von jubelnden GIs (und als Zugabe ließ er das Orchester im Stehen die »Internationale« spielen, seinerzeit noch die Nationalhymne der Sowjetunion). Das war Truppenbetreuung in einem Krieg, in dem es der Sowjetunion und den USA um etwas ging, nämlich um den Kampf gegen das faschistische Deutsche Reich, den die Sowjetunion mit zehn Millionen toten Soldaten und weiteren Millionen zivilen Opfern bezahlen musste.
Schostakowitsch war zweifellos ein Sympathisant der Russischen Revolution und der frühen bolschewistischen Sowjetunion, die ja nicht nur bis zu Lenins Tod 1924, sondern auch noch in den darauffolgenden Jahren bis etwa 1929 ein Land voller künstlerischer Möglichkeiten und Freiheiten war. Es gab ein ungeheures Ausmaß an basisdemokratischen Initiativen, Massenmobilisierungen und Kunstfreiheit.
Lenin war dem bürgerlichen Kulturleben durchaus zugetan. Zwar löste er 1920 die noch vor der Oktoberrevolution gegründete Proletkultbewegung auf, doch er ordnete sie dem Volkskommissariat für Erziehung unter, das der Schöngeist Anatoli Lunatscharski bis 1929 leitete. Das war eine liberale Ära progressiver Kulturpolitik, die die sowjetische Kultur und die Künste ungeheuer befeuerte, bis das Kultursystem nach 1929 von Stalin instrumentalisiert und gleichgeschaltet wurde.
Schostakowitsch hat 1967 bekannt, dass ihn »die Revolution«, also die zehn Monate vom Februar bis zum November 1917, zum Komponisten gemacht habe: »Das mag vielleicht überspitzt klingen – von da an jedenfalls fühlte ich mich zum Komponieren berufen.«
Online sind auch Teil 2 und Teil 3 von Berthold Seliger zu Schostakowitsch abrufbar.
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