»Zeugenschutzprogramm für Narcos«

Der investigative Journalist Aaron Ibarra über die US-Justiz und den Drogenhandel in Mexiko

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 5 Min.
Ovidio Guzman, Sohn des in den USA inhaftierten mexikanischen Drogenbosses »El Chapo«, ist an die USA ausgeliefert worden.
Ovidio Guzman, Sohn des in den USA inhaftierten mexikanischen Drogenbosses »El Chapo«, ist an die USA ausgeliefert worden.

Der Drogenboss Ovidio Guzmán hat sich vor einem Gericht in den USA schuldig bekannt. Sein Vater, der ehemalige Kartellchef »El Chapo« aus dem mexikanischen Bundesstaat Sinaloa, sitzt bereits in Colorado im Hochsicherheitsgefängnis. Medien berichten von bis zu 20 Jahren Knast, die ihm bevorstehen könnten. Ein Schlag gegen den Drogenhandel?

Das ist die Lüge. Er wird nie ein Gefängnis betreten. Er hat sich schuldig bekannt, um den Prozess zu verkürzen. Im Januar wird der Prozess dann fortgesetzt, mit einer Art Zwischenanhörung. Beweise werden vorgelegt, Plädoyers eingebracht, später kommt er dann automatisch ins Zeugenschutzprogramm. Wie schon viele Narcos zuvor. Die politische Klasse in den USA ist nicht um die öffentliche Gesundheit ihrer Nation besorgt. In diesem Krieg geht es um Kontrolle. Wir sehen, wie Drogenbosse geschnappt und ausgeliefert werden, nur um dann im Zeugenschutzprogramm zu enden. Sie bekommen ein neues Leben in den Vereinigten Staaten. Wie etwa Damaso López Serrano alias »El Mini Lic«. Auch er hat sich schuldig bekannt und ging dann ins Programm. Er war Teil des Sinaloa-Kartells und Sohn von Damaso López Núñez alias »El Licenciado«, der als Kopf hinter den beiden erfolgreichen Gefängnisausbrüchen von »El Chapo« bekannt wurde. Wir haben es hier mit einer befangenen, einer parteiischen Justiz zu tun.

Ovidio Guzmán wird mit den Behörden in den USA kooperieren. Aufgrund seiner Rolle innerhalb des Kartells, etwa als Kopf der »Los Chapitos«, zusammen mit seinen Brüdern, dürfte er über sensible Informationen verfügen, zum Beispiel über Politiker*innen oder Militärs. Könnte er etwas publik machen, das politische Folgen bis in die mexikanische Innenpolitik nach sich zieht?

Interview


Aaron Ibarra (44), ist freier Reporter aus Sinaloas Hauptstadt Culia­cán. Sein Kollege Javier Valdez überzeugte ihn, sein journalis­tisches Schaffen dem Organi­sier­ten Verbrechen und der Korruption zu widmen. Valdez wurde 2017 in Culiacán aufgrund seiner Recherchen getötet.

Das können wir zurzeit noch nicht wissen. Aber wir können uns die Geschichte anschauen. Im Oktober 2019 sollte Ovidio Guzmán gefasst werden, auf einem Anwesen in Culiacán, der Hauptstadt Sinaloas. Der Einsatz ging nach hinten los: Die Stadt versank im Chaos, mindestens zehn tote Soldaten, ein riesiges Durcheinander. Seitdem kam der damalige Präsident Andrés Manuel López Obrador mindestens zwölfmal persönlich nach Sinaloa. Siebenmal davon nach Badiraguato, die Heimat von »El Chapo«. 2023 wurde dieser dann in der Ortschaft Jesús María ergriffen, und unter Knurren und Murren an die USA ausgeliefert.

Unvergesslich die Szene, als López Obrador der Mutter des verurteilen Drogenbosses »El Chapo« die Hand schüttelt und sie freundlich begrüßt – als wäre sie eine Nachbarin.

Viele Gründe weisen darauf hin, dass die Partei Morena über López Obrador starke Verbindungen mit dem Organisierten Verbrechen eingegangen ist. Wenn es um Geld und Organisierte Kriminialiät geht, dann reden wir hier nicht über Paypal-Überweisungen. Es geht um Cash, um Bargeld. Sonst ließen sich derart viele persönliche Besuche vor Ort nicht »übersetzen«. Sie würden keinen Sinn ergeben. Das ist also etwas, über das Ovidio auspacken könnte: Wer erhielt wie viel Geld, in welchem Koffer, wann und wo? Und über wen – wer waren die Mittelsmänner?

Ovidios Anwalt Jeffrey Lichtman – der bereits Mafia-Größen wie John Gotti Jr. vertrat – verlautbarte, dass die mexikanische Regierung nicht Teil der Vereinbarungen war, die sein Klient mit den US-Behörden unterzeichnete. Daraufhin wütete Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum und kommentierte das als »respektlos«. Warum hat sie das gesagt?

Ich schätze, das war eine empörte Reaktion auf den konstanten Druck vonseiten der US-Regierung. Sheinbaum weiß, dass der Moment kommen wird, in dem sie nicht mehr alle korrupten Funktionäre decken kann, die ihr von López Obrador überlassen wurden. Sie wird einige aushändigen müssen. Dem Governeur von Sinaloa, Rubén Rocha Moya, nach wie vor an der Macht, wurden bereits Verbindungen zur kriminellen Gruppe »Los Chapitos« nachgewiesen – oder zu einem von Adán Augusto López benannten Sekretär mit Verbindungen zum Jalisco-Kartell Neue Generation (CJNG). Adán Augusto López wiederum ist einer der engsten Vertrauten López Obradors.

Wie ist die Situation für die Zivilbevölkerung in Sinaloa?

Niemand lebt hier – wir überleben. Es ist ein ständiger Krieg. Unsere Kinder beginnen ihr Schuljahr zwischen Kugeln und beenden ihr Schuljahr im Kugelhagel. Dutzende sind bereits durch Querschläger gestorben. Es gibt kaum Feten zum Schulbeginn. Viele Familien mussten emigrieren – raus aus der Stadt oder gar aus dem Bundesstaat. Alle sechs Stunden ein Mord. Wenn man auf die Straße geht, weiß man nie, ob man ins Kreuzfeuer gerät.

Ein normales Leben scheint also kaum möglich. Welche Auswirkungen hat das für den Arbeitsalltag der Menschen vor Ort?

Kleider-Boutiquen schließen, selbst Ärzte für plastische Chirurgie können nicht operieren – und das in Sinaloa, wo derartige Eingriffe für die Frauen der Narcos sehr populär sind. Viele kleine Geschäfte trifft die Narco-Inflation, also die erhöhten Ausgaben bedingt durch ständige Erpressung. Öfter liest man Schilder: »Zu vermieten« oder »Zu verkaufen«. Kürzlich gab es eine Kontroverse zwischen Restaurantbetreibern. Denn wegen der Sicherheitslage schlossen einige Restaurants, während andere jetzt lediglich Frühstück anbieten – sehr zum Missfallen der bestehenden Frühstücksbistros.

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