Garielle Lutz: Reise in die Einsamkeit der Sprache

Garielle Lutz beschreibt Einsamkeit, Melancholie, Identitätskrisen, Ehekrisen, Familienrituale, traurigen Sex und Gender-Schmerzen

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Garielle Lutz schreibt gegen Konventionen und Normen an. Sie selbst wagte sich in den USA erst 2021, als Transgender zu outen.
Garielle Lutz schreibt gegen Konventionen und Normen an. Sie selbst wagte sich in den USA erst 2021, als Transgender zu outen.

Freudlos ist das Leben der Menschen mittleren Alters aus der mittleren Schicht in den mittelgroßen Städten der Vereinigten Staaten, ohne sozialen Zusammenhalt und Gemeinsinn. Leiden ist leichter als lösen, das weiß die Populärpsychologie und das wissen die funktionalen Melancholiker. Und so schleppen sie sich weiter durch den Alltag, gehen den Pflichten von Sippe und Stelle nach, ohne dass Veränderung eine ernste Option wäre. Sie bleiben halt eben nun mal einfach schlicht und ergreifend sehr, sehr einsam.

Die Schriftstellerin, Satzartistin, Beschreibungsmeisterin dieses Elends heißt Garielle Lutz. Als Gary Lutz kam sie 1955 in Pennsylvania auf die Welt in der Arbeiterklasse. Man sprach wenig zu Hause, Bücher gab es eigentlich keine, so was wie proletarisches Selbstbewusstsein spielt in ihrer Literatur keine Rolle; als wäre die schiere Möglichkeit, in den Gang der Gesellschaft einzugreifen, ein absonderliches Hirngespinst aus Old Europe.

Lutz besucht die Uni, studiert Englisch, kreatives Schreiben. Gary verdingt sich als Dozent, macht aber keine Karriere, gibt Förderunterricht und schreibt Bücher über die englische Grammatik. Aus der Trübnis hilft die Sprache, denn Sprechen macht hell, sie hilft, sich aus der Misere herauszuformulieren, indem man syntaktische Finten schlägt, das Schweigen bricht und die Gedanken und Perspektiven beweglich hält, um doch nicht nur schwarzzusehen.

In den 90er Jahren wird Lutz’ Talent dann doch noch prominent gefördert: Der legendäre Lektor Gordon Lish, der u. a. für Raymond Carvers Weltruhm mitverantwortlich zeichnet (und massiv in seine Texte eingreift), findet Gefallen an den abseitigen Short Storys über ewige Ehekrisen, Familienrituale, traurigen Sex, Gender-Schmerzen, Nicht-Begegnungen von Außenseitern. Gary (damals noch) wird in Zeitschriften gedruckt, erhält kleine Auszeichnungen, kann Bücher mit seinen Erzählungen veröffentlichen, und trotz Unverständnis seitens des Feuilletons entwickelt sich eine Fan-Gemeinde, zu der erfolgreiche Romanciers wie Ben Marcus, die Oxforder Literaturwissenschaftlerin Merve Emre oder im deutschsprachigen Raum Clemens J. Setz zählen.

Der Verlag Weissbooks veröffentlichte nun das zweite Mal eine Lutz-Story-Sammlung in deutscher Übersetzung von Christophe Fricker. Der Titel »Ich wirkte lebendig« verspricht keine vitalistische Kraftmeierei, sondern depressive Exerzitien. Aber diese Bezeichnung wird den Storys, die meistens nur wenige Seiten (nie mehr als zehn) umfassen, auch nicht gerecht. In der Regel erzählt ein Ich, es gibt auch keine heiteren Passagen, aber, so doof das klingt, es geht Lutz nicht um Individualpsychologie, sondern um die Sprache, was sie ausdrücken kann, wie sie Wirklichkeit ins Verhältnis setzt: »Ich kann mich an meine Kindheit kaum noch erinnern, aber ich weiß noch, dass ich mich nie vollständig geliebt oder zurückgelassen fühlte. Erst Mitte zwanzig galt ich als jemand, der im Zorn von seinen Eltern her gedacht werden musste, die wiederum selbst von ihren eigenen gnadenlosen Müttern und Vätern her gedacht worden waren. In dieser frommen Welt muss uns wohl die Rolle beschieden sein, zu monstern und zu überdauern.«

Generationelle Gewaltschlaufen und Resignation, verpackt in Sätze, die Umwege gehen, in denen Wörter sich gegenseitig wiegen, entlarven als Blabla, als Behelfsmittel. Lutz gab 2020 bekannt, trans zu sein, nannte sich fortan Garielle. Bereits in diesen Storys, die im englischen Original vor mehr als 20 Jahren erschienen sind, geht es um geschlechtliche Unbestimmtheit, um mit Frauen verheiratete Männer mit Kind, die mit anderen Männern maximal anonymen Sex (in einer Welt vor Grindr) suchen und finden und so traurig wie zuvor auseinandergehen. Dabei sorgt die Formulierungsgabe als Befangenheit für eine tiefe Distanz und brutale Genauigkeit zugleich: »Als ich das Bett erreichte, hatte der Mann schon einen Großteil des Tagesscheins aus den Jalousien gezogen. Da war das sich verschlimmernde Geräusch von Leuten zu hören, denen es peinlich war, sich von ihrer Unterwäsche zu trennen (...).«

Übersetzer Christophe Fricker findet gute Lösungen für Lutz’ idiosynkratische Syntax, aber die vielen Silben im Deutschen, die Einheiten des Satzbaus, lassen vielleicht zwangsläufig alles etwas gestelzter und komplizierter klingen als im Original. Lesen sollten Leute, die keinen Wert auf Spannung, Meinungsgeigerei oder erstrebenswerte Ersatzleben in der Literatur legen, Lutz’ Geschichten aber auf jeden Fall, denn sie ist eine einzigartige Feldforscherin der Einsamkeit (in) der Sprache.

Garielle Lutz: Ich wirkte lebendig. Aus dem amerikanischen Englisch von Christophe Fricker. Mit einer Reportage von David Nutt. Weissbooks, 256 S., geb., 22 €.

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