Berliner Kita-Erzieher: Notstand als Normalzustand

Neue Studie: 89 Prozent der Beschäftigten in den landeseigenen Kitas in hohem Maße belastet

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.
Heile Welt: Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) und ein Betreuungsschlüssel von 1:1
Heile Welt: Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) und ein Betreuungsschlüssel von 1:1

»Das sind keine punktuellen Probleme, das ist eine strukturelle Krise«, fasst Tina Böhmer die Ergebnisse des Verdi-Kita-Realitätschecks 2.0 zusammen. Die Gewerkschaftssekretärin stellt den Bericht am Mittwoch vor. Demnach sind 89 Prozent der Beschäftigten in den landeseigenen Kitas laut eigener Aussage mindestens in hohem Maße belastet. Nahezu 100 Prozent gaben zudem an, ihren eigenen Anspruch an den Beruf nicht mehr erfüllen zu können.

Der Bericht ist brandaktuell. Vom 16. Juni bis zum 20. Juli wurden 1438 Beschäftigte und 731 Elternteile befragt. Der Berliner Kita-Realitätscheck ist laut Verdi die bislang einzige Erhebung, die ein realistisches Bild der tatsächlichen Fachkraft-Kind-Verhältnisse vor Ort zeichnet. »Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat der dramatischen Lage immer widersprochen und keinen Handlungsbedarf gesehen«, so Böhmer.

Im Sommer 2024 rückten die Streiks der pädagogischen Fachkräfte in den Berliner Kita-Eigenbetrieben die anhaltende Kita-Krise erneut in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Ein geplanter Erzwingungsstreik wurde im Oktober 2024 gerichtlich verboten. Erst danach fanden im November und Februar Gewerkschaften und Senat zu zwei Runden Tischen zur Lage zusammen. Dort versprach Günther-Wünsch, rückläufige Zahlen der Kinder in den Berliner Kitas zu nutzen, um den Personalschlüssel im Bereich der unter Dreijährigen zu verbessern.

Derzeit arbeitet die Senatsverwaltung für Bildung an einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsqualität in den landeseigenen Kitas. Aus Sicht von Verdi ist dieser Prozess entscheidend für die künftige Entwicklung der Berliner Kita-Landschaft. Doch trotz der zumindest angekündigten Verbesserung des Personalschlüssels im Bereich der unter Dreijährigen befürchtet die Gewerkschaft, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit insgesamt durch die Hintertür abgesenkt werden soll.

Die Vorstellung der Umfrage nahm Verdi zum Anlass für deutliche Kritik am Senat. So werde weiter versucht, die Personalkosten zu senken. Es drohe, dass Fachpädagog*innen durch günstigere, kaum qualifizierte Quereinsteiger*innen ersetzt werden. »Versteckte und verklausulierte Maßnahmen in der Rahmenvereinbarung Tagespflege, welche zusammen mit dem Kita-Fördergesetz die Finanzierung der Berliner Kitas regelt, torpedieren bereits verhandelte Fortschritte«, sagt Böhmer.

»Die Lage ist sehr angespannt. Gerade die letzten Wochen waren wieder geprägt von Personalmangel.«

Vera Treske Erzieherin im Kita-Eigenbetrieb

Von Senatsseite werde immer auf die Finanzen und den Spardruck verwiesen. Verdi will daher am 12. September in einer konzertierten Aktion auch dem Landes- und dem Bundesfinanzministerium Forderungen zur Stabilisierung der Kinder- und Jugendhilfe übergeben. »Es kann ja nicht sein, dass das hier alles nur noch über Sparmodelle geregelt werden soll«, so Böhmer. Diese neoliberale Strategie führe zu einer stetig mangelhafteren Betreuung. Für die Kinder bedeute dies langfristige Entwicklungsprobleme.

Elke Alsago spricht vom Problem der »Deprofessionalisierung«: Gut ausgebildete Fachkräfte werden mit dem Argument des Kostendrucks durch Unterqualifizierte ersetzt. Das Problem sieht die Verdi-Bundesfachgruppenleiterin für Erziehung und Bildung flächendeckend in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe und verweist auf eine Bertelsmann-Studie von 2024, die bereits eine deutliche Absenkung der Fachkraftquote gezeigt habe: »Und sie wird weiter sinken, zugleich steigen aber die Ansprüche an die Kinderbetreuung«, so Alsago.

Aus der Politik gebe es eine Tendenz zu stärkerer Normierung auch in der öffentlichen Kinderbetreuung. »Normierte Verfahren für die Kita-Betreuung finden sich bereits im aktuellen Koalitionsvertrag«, so Alsago gegenüber »nd«. Der politische Rechtsruck mache sich auch hier deutlich bemerkbar.

Vera Treske, Facherzieherin im Berliner Kita-Eigenbetrieb Südost, spricht auf der Pressekonferenz von schlaflosen Nächten: »Die Lage ist sehr angespannt. Gerade die letzten Wochen waren wieder geprägt von Personalmangel durch Krankheitsausfälle. Dann ist man nur mit der Hälfte der Kolleg*innen vor Ort, Gruppen müssen geschlossen und umverteilt werden. Wir können unsere Arbeit schlicht nicht so machen, wie wir es wollen.«

Sie könne sich nicht vorstellen, wie eine fortschreitende Deprofessionalisierung der Kinderbetreuung helfen soll. »Fachpädagog*innen beobachten die Kinder, können ihren jeweiligen Entwicklungsstand beurteilen und dann einwirken. Wir haben Kinder mit speziellen Bedarfen, mit Migrationshintergrund zum Beispiel, die umso mehr individuelle Betreuung brauchen«, berichtet sie. In der Kita, in der sie arbeitet, habe es mal vier Facherzieher*innen gegeben, jetzt nur noch zwei. »Wir brauchen mehr und nicht weniger – allein die Erwägung, es genügten weniger, ist schon unvorstellbar.«

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