Medizin nach Noten: Radio Taiso macht Japan fit

Wie ein Gymnastikradio Millionen Japaner fit hält

Fit im Betrieb: Während der Pause folgen Arbeiter in Sagamihara der Stimme von Radio Taiso.
Fit im Betrieb: Während der Pause folgen Arbeiter in Sagamihara der Stimme von Radio Taiso.

Die Stimme, die durchs Programm führt, erklärt Schritt für Schritt: Auf der Stelle soll man tippeln, nacheinander die Knie an die Brust ziehen. Die Arme anheben. Ab und zu lobt sie: Anstrengend sei das Ganze, ja, durchhalten müsse man, gut so! Weiter geht’s! Diese Stimme ertönt im Radio und aus dem Fernseher – Unzählige folgen ihr. Fast alle in Japan kennen diese täglich ausgestrahlte Sendung: Radio Taiso – Gymnastikradio – gehört zum üblichen Tagesablauf.

Millionen Menschen

An diesem Mittwochmorgen treffen sich rund 100 Menschen im Rinshi-no-mori-Park in Meguro, einem Stadtteil von Tokio. Kurz vor 6.30 Uhr versammeln sie sich auf einer Freifläche, je ein paar Armbreiten voneinander entfernt und absolvieren gemeinsam das zehnminütige Gymnastikprogramm Radio Taiso. Schätzungen zufolge tun dies 27 Millionen Menschen in Japan mindestens zweimal in der Woche. Dieser Park im westlichen Zentrum von Tokio ist also nichts Besonderes. Auch in anderen Parks, Büros, Schulen und heimischen Küchen wird täglich zur Radiostimme geturnt, teilweise auch in einer Wiederholung zu späteren Tageszeiten. Radio Taiso ist eine Art Volkssport.

Was im Rinshi-no-mori-Park von Tokio auffällt: Fast alle Teilnehmenden sind 70, 80 oder 90 Jahre alt – und üben trotzdem mit Leichtigkeit. So etwa der 93-jährige Tsuyoshi Ueda. »Ich komme seit über 30 Jahren jeden Tag hierher. Die Übungen kenne ich alle schon auswendig«, erklärt der frühere Bauarbeiter. Er könne das alles auch zu Hause machen, sagt Ueda. Aber im Park mit allen Leuten zusammenzutreffen, sei ihm Motivation, morgens aus dem Bett zu kommen. »Mich hält das fit!« Und das sieht man: Während der ersten drei Minuten rotieren die Arme leicht, in der restlichen Zeit ist der ganze Körper im Einsatz. Es geht um die Aktivierung des Körpers, vor allem für alte Menschen, aber auch für Büroarbeitskräfte ist es hilfreich, wenn dies regelmäßig gemacht wird.

Gesund im Alter

Ueda trägt eine knallgrüne Sportjacke, hat sein Fahrrad, mit dem er kurz nach sechs zu Hause losgefahren ist, am Rand der Freifläche abgestellt. Das Workout sei für ihn wie Zähneputzen, Routine eben, sagt er. »Gestern hat’s geregnet, da waren etwas weniger Leute hier. Aber ich komme immer. Wir haben das auch früher auf dem Bau mit Kollegen gemacht.« Einer hatte immer einen Ghettoblaster dabei, in der Pause lief dann die Aufnahme von Radio Taiso.

Auch im Rinshi-no-Mori-Park läuft das Programm auf einem mitgebrachten Rekorder, per Bürgerinneninitiative, wie es sie im Land überall gibt. In dem Radioprogramm sehen Gesundheitsexpertinnen einen Grund, warum Japaner weltweit dafür bekannt sind, nicht nur alt zu werden, sondern auch lange fit zu bleiben.

Amerikanische Vorturner

Seinen Ursprung hat Radio Taiso vor knapp 100 Jahren, als Vertreter der japanischen Post in die USA reisten und dort im Radio Fitnessprogramme hörten. Begeistert nahmen sie die Aufnahmen mit in die Heimat, kontaktierten den öffentlichen Rundfunksender NHK und boten an, so ein Programm zu sponsern. Kurz darauf begann die Ausstrahlung – und rund 20 000 Angestellte der Post turnten auf der Straße. Bald machte es das ganze Land nach.

Die Idee, in großen Gruppen – auch zusammen mit Unbekannten – im öffentlichen Raum Gymnastik zu betreiben, ist längst keine japanische Eigenart mehr. Wer morgens durch die Parks taiwanischer Städte joggt, hört oft laute Musik, zu der sich vor allem ältere Personen rhythmisch bewegen. Wenn auch nicht als Teil eines national inszenierten Gesundheitsprogramms: Tägliche Bewegung vor allem für Senioren hat sich auch in Taiwan eingebürgert. Ebenso in China: Dort sieht man in Parks nicht nur gestählte Omas und Opas, die Klimmzüge, Liegestütze und diverse Übungen an den vielen Fitnessgeräten unter freiem Himmel absolvieren. Größere Gruppen üben sich auch in der rhythmischen Verteidigungstechnik Tai Chi oder in der Meditations- und Bewegungsform Qigong.

Guter »Gruppenzwang«

Auch in Korea sind öffentliche Parks dafür ausgelegt, dass sich Menschen, meist ältere, körperlich betätigen. Radio Taiso schaffte es während der japanischen Kolonialzeit auch hierher; neuere Fitnessprogramme beziehen sich darauf. In Südkorea sind zudem selbst am Rande von kleineren Wäldern oder Bahnstationen Mini-Open-Air-Fitnessanlagen installiert.

Im Rinshi-no-Mori-Park ist es kurz nach 7 Uhr, die meisten Menschen sind schon wieder verschwunden. Masaaki Nagata ist noch da, der 72-Jährige dehnt etwas nach. »Mein Rücken ist in letzter Zeit etwas steif geworden«, sagt er, sieht aber nicht gequält aus. Er müsse nur regelmäßig etwas dagegen tun. »Gleich kommen auch noch ein paar alte Bekannte rüber. Dann jagen wir mit selbst gebastelten Papierflugzeugen durch die Gegend. Das bringt immer viel Spaß!« Auch für Nagata, der vor seiner Rente in einer Werbeagentur gearbeitet hat, ist die tägliche Gymnastikeinheit im Park ein sozialer Anlass. Er und seine Bekannten, die er vor allem von den morgendlichen Parktreffen kennt, sind sich einig: Gäbe es den täglichen »Gruppenzwang« durch Radio Taiso nicht, wären sie am Morgen wohl zu Hause geblieben.

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