Chemnitz und NSU: In der Täterstadt wird der Opfer gedacht

Bundesweit erstes Dokumen­tations­zentrum zu rechtsextremer Mordserie findet viel Zuspruch

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit Mai ist das NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz geöffnet, in dem die Opfer im Mittelpunkt stehen.
Seit Mai ist das NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz geöffnet, in dem die Opfer im Mittelpunkt stehen.

Die Armbanduhr in der Vitrine im Chemnitzer NSU-Dokumentationszentrum ist einige Minuten vor 10 Uhr stehen geblieben. Um diese Uhrzeit sei Mehmed Kubaşık gestorben, ist auf einer Tafel unter dem Glaskasten zu lesen. In diesem liegen zudem ein Handy und ein Portemonnaie. Sie gehörten dem in der Türkei gebürtigen Unternehmer, der in Dortmund einen Gemüseladen betrieb und knapp einen Monat vor seinem 40. Geburtstag am 4. April 2006 in seinem Geschäft erschossen wurde.

Kubaşık war das achte von insgesamt zehn Todesopfern der von 2000 bis 2007 währenden Mordserie der rechten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).Wenn sie die Uhr und das Handy sehe, sei sie »sehr berührt«, sagt Lydia Lierke. Sie arbeitet in dem Dokumentationszentrum, das im Mai in der Innenstadt von Chemnitz eröffnete – in einer Stadt also, in der das Kerntrio des NSU jahrelang unbehelligt im Untergrund lebte, bevor es nach Zwickau weiterzog. Die beiden Städte werden im Zusammenhang mit dem NSU deshalb oft als »Täterstädte« bezeichnet. Trotzdem haben Hinterbliebene der NSU-Opfer persönliche Gegenstände für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Das sei, sagt Lierke, »ein großer Vertrauensbeweis«.

Es ist womöglich auch Anerkennung dafür, dass überhaupt endlich in einer deutschen Stadt die Taten des NSU dokumentiert werden und an dessen Opfer erinnert wird. Das sei »längst überfällig«, sagte Mehmed Kubaşıks Tochter Gamze bei der Eröffnung im Mai. Immerhin seien seit der Selbstenttarnung des NSU-Trios 14 Jahre vergangen. Trotzdem ist das Chemnitzer Zentrum, das auf die Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen zurückgeht, bisher das einzige im Land. Zwar haben sich sowohl die vorige als auch die aktuelle Bundesregierung zur Errichtung eines bundesweiten Dokumentationszentrums bekannt. Doch ein Gesetzentwurf, der Berlin als dessen Sitz vorgesehen hatte, wurde wegen des vorzeitigen Endes der Ampel-Koalition nicht mehr beschlossen. CDU/CSU und SPD wollen das Zentrum nun in Nürnberg errichten. Wann dieses eröffnet wird, ist nicht absehbar.

Dabei ist das Interesse der Öffentlichkeit groß. In das Chemnitzer Zentrum kämen pro Tag rund 100 Gäste, sagt Dean Ruddock, der dort für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Viele seien Besucher von Chemnitz als europäischer Kulturhauptstadt. Auch die Stadtbevölkerung sei interessiert: »Bei Abendveranstaltungen begrüßen wir viele Chemnitzer.« Insgesamt habe das Zentrum bisher in gut zwei Monaten rund 5000 Besucher gehabt.

Nicht wenige von ihnen seien nach dem Rundgang verblüfft, sagt Lierke. Grund dafür ist, dass in der Ausstellung kaum von den Tätern die Rede ist. Deren Werdegang in den ostdeutschen Baseballschlägerjahren sei oft erzählt worden, sagt Lierke; ihre Namen würden viele kennen. Die der Opfer seien vielen dagegen bis heute wenig bekannt. Deshalb wolle man in Chemnitz vor allem »von denjenigen erzählen, die vom NSU aus ihrem Leben gerissen wurden, und vom Leid ihrer Hinterbliebenen«.

Zu Beginn des Rundgangs schauen die Besucher deshalb auf Porträts der vom NSU ermordeten Menschen und können sich an einer Videostation erklären lassen, wie ihre Namen ausgesprochen werden. Es folgen die Vitrinen mit persönlichen Gegenständen, von denen einige freilich noch leer sind. »Da sind wir noch in Gesprächen«, sagt Lierke. Ablehnung habe man bisher von keiner der Familien erfahren. Zwar hatten sich Angehörige in einer 2024 vorgestellten Machbarkeitsstudie gegen Chemnitz als zentralen Ort der Aufarbeitung ausgesprochen. Sie hatten auf starke rechtsextreme Strukturen in Sachsen und eine »von ihnen empfundene Bedrohungslage für migrantisch gelesene Menschen« verwiesen. Trotzdem stünden sie dem Chemnitzer Zentrum aufgeschlossen gegenüber, sagt Lierke: »Sie zollen uns Anerkennung dafür, dass wir in dieser Stadt politische Bildungsarbeit leisten.«

»Die Familien der Opfer zollen uns Anerkennung dafür, dass wir in dieser Stadt politische Bildungsarbeit leisten.«

Lydia Lierke NSU-Dokumentationszentrum

Den größten Raum der Ausstellung nimmt eine Installation ein, die optisch an Ortsschilder erinnert und einzelne Tatorte des NSU vorstellt. Fotografien zeigen Straßen und Plätze mit den Geschäften der Opfer, die fest in der bundesdeutschen Gesellschaft integriert waren – einer auch von Einwanderern geprägten Gesellschaft, die »der NSU ablehnte und bekämpfte«, sagt Lierke. Weitere Fotos dokumentieren, ob und wie an ihren jeweiligen Lebensorten an die Opfer erinnert wird.

Im Hintergrund ist permanent die Tonspur eines Videos zu hören, das eine Demonstration mit 2500 Teilnehmern in Kassel im Jahr 2006 zeigt. Unter dem Motto »Kein zehntes Opfer« forderten Angehörige von NSU-Opfern die deutsche Öffentlichkeit auf, Rechtsextreme als Täter in Betracht zu ziehen. Die Polizei war bis dahin Spuren etwa ins Drogenmilieu nachgegangen; die Rede war von »Dönermorden«. Das Video sei »zentral für unsere Ausstellung«, sagt Lierke. »Es lenkt den Blick auf die Ignoranz der Gesellschaft, die diese Menschen allein ließ.«

Diese Ignoranz und das Versagen von Polizei, Geheimdiensten, Medien und Politik ließen aus der rechten Mordserie den »NSU-Komplex« werden, der in einer großen Grafik in der Ausstellung erläutert wird. Er harre dringend weiterer Aufklärung, so Lierke. Auf einer Wand heißt es: »Kein Schlussstrich!« Das sei eine Forderung der Hinterbliebenen, die auch das Chemnitzer Dokumentationszentrum mittrage. So lädt es im September zu einem wissenschaftlichen Symposium über den »NSU-Terror und autoritäre Tendenzen der Gegenwart«. Daneben gibt es ein umfangreiches Programm für Besucher, mit Lesungen, Führungen und ab diesem Freitag auch mit einem digitalen Erinnerungsort. Eine App soll dabei »im Stil von Street Art und Druckgrafik neue visuelle Zugänge zum Gedenken eröffnen«, heißt es. All das dürfte weitere Besucher auf das Chemnitzer Zentrum aufmerksam machen – bei dem freilich offen ist, wie lange es bestehen wird. Mit dem Beschluss des sächsischen Doppelhaushalts im Juni sei immerhin die Finanzierung bis Ende 2026 gesichert, sagt Lierke. Darüber hinaus »müssen wir schauen«.

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