Grönland: Aufwärtsfließender Gletschersee

In Grönland wurde ein neues Phänomen bei der Eisschmelze beobachtet

  • Wolfgang Pomrehn
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Harder Glacier in Nordgrönland, aufgenommen 2024 von »Copernicus Sentinel-2«
Der Harder Glacier in Nordgrönland, aufgenommen 2024 von »Copernicus Sentinel-2«

Inmitten des Grönländischen Eisschildes hatte sich im Jahr 2014 eine gigantische Wassermasse gebildet. Was hinter diesem, zunächst auf Satellitenaufnahmen entdeckten Phänomen steckt, berichtete die europäische Weltraumagentur Esa erst kürzlich. Ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat bei der Auswertung der Bilder gewaltige und äußerst ungewöhnliche Schmelzwasserflüsse identifiziert, die sich in einer besonders entlegenen Region Grönlands schon vor elf Jahren ereignet hatten. Die Ergebnisse wurden in »Nature Geoscience« veröffentlicht.

Für gewöhnlich schmilzt das grönländische Eis im Sommer an den Rändern und auf den niedrigeren Teilen der Oberfläche. Dort kann es auch kleine Tümpel und regelrechte Flüsse bilden, die sich ins Eis eingraben, in Spalten eindringen und diese ausweiten, womit das Eis destabilisiert wird. Das Schmelzwasser fließt meist zum Meer, kann also im Winter nicht wieder gefrieren. Das Eis verliert außerdem durch das Abbrechen seiner ins Meer drückenden Ausläufer an Masse. Der Eisschild verhält sich nämlich nicht statisch, sondern fließt aufgrund seiner enormen Ausmaße zu den Küsten. An seiner dicksten Stelle misst er von der Sohle bis zur Oberfläche mehr als drei Kilometer und sein Gewicht lässt ihn wie einen sehr zähen Brei auseinanderlaufen, während von oben Schicht um Schicht neuer, langsam vereisender Schnee nachdrückt.

Großer Druck von unten

Diese Prozesse sind im Prinzip bekannt und können modelliert werden. Auch der felsige Untergrund, dessen Gestalt einen wesentlichen Einfluss auf das Fließverhalten hat, konnte in den letzten beiden Jahrzehnten teilweise erkundet werden. Neu ist nun aber die von der Esa mitgeteilte Entdeckung, dass das Schmelzwasser im Eisschild auch aufwärts fließen kann, und zwar in durchaus größerem Umfang. Anhand von Daten mehrerer Erdbeobachtungssatelliten, darunter »CryoSat« der Esa und die Missionen »Copernicus Sentinel-1« und »Sentinel-2«, hat das Forschungsteam nachvollzogen, dass eine enorme Flut unter dem Grönländischen Eisschild mit solcher Wucht nach oben drückte, dass der Eisschild aufbrach und eine große Menge Schmelzwasser durch die Eisoberfläche drang. Ursache war offensichtlich großer Druck auf einen unter dem Eis gelegenen See und eine Instabilität des Eispanzers.

Derartige Seen sind im Prinzip seit längerer Zeit bekannt, aber der unter dem Wasserausbruch gelegene war den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bisher entgangen. 90 Millionen Kubikmeter Wasser (90 Würfel mit einer Kantenlänge von 100 Metern) sind innerhalb von zehn Tagen ausgetreten und haben einen 85 Meter tiefen und zwei Quadratkilometer großen Krater geschaffen, heißt es bei der Esa. 25 Meter hohe Eisblöcke seien aus der Oberfläche gerissen worden und im Eis hätten sich Risse gebildet.

Besseres Verständnis des Eisschilds

Die neuen Erkenntnisse dienen nun dazu, die Modelle des Eisschilds zu verbessern. Ein Verständnis der Prozesse im grönländischen Eis ist wichtig, um den Anstieg der Meere in einer sich erwärmenden Welt beurteilen zu können. Immerhin ist in dem mächtigen Eisschild Wasser gespeichert, das die Pegelstände rund um den Globus um sieben Meter ansteigen lassen könnte. Ein vollständiger Eisverlust wäre allerdings zum einen ein sehr langsamer Prozess, zum anderen ist er auch recht unwahrscheinlich, da dafür die globale Durchschnittstemperatur über die Worst-Case-Szenarien hinaus ansteigen müsste. Doch auch ein Teilverlust ist schlimm genug. Immerhin sind zum Beispiel an der deutschen Nordseeküste selbst die neuesten Deiche nur auf einen um einen halben Meter höheren Meeresspiegel ausgelegt, und das Schmelzen des Grönländischen Eisschilds ist nicht die einzige Ursache für seinen Anstieg.

Zukünftiger Anstieg des Meeresspiegels

Zurzeit steigt der Meeresspiegel um 3,7 Millimeter pro Jahr. Der Anstieg hat sich aber in den letzten Jahrzehnten bereits erheblich beschleunigt. Die vom Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) in seinem aktuellen Sachstandsbericht zusammengefassten Prognosen der Wissenschaft gehen davon aus, dass die mittleren Pegelstände bis zum Ende des Jahrhunderts, je nach Menge der künftig noch in die Luft geblasenen Treibhausgase, um 0,28 bis einen Meter steigen werden. Danach wird der Anstieg allerdings noch über viele Jahrhunderte weitergehen. Selbst wenn die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann, wird der mittlere Meeresspiegel in den kommenden 2000 Jahren noch um zwei bis drei Meter steigen.

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