- Politik
- Bolivien
Bolivien: »Das politische Feld ordnet sich neu«
Der Politologe José Luis Exeni Rodríguez über den Übergangsprozess in Bolivien
Bolivien steht vor einer Richtungsentscheidung. Welche Auswirkungen wird die Wahl auf die politische Landschaft haben?
Die Wahl markiert das Ende eines politischen Zyklus, das Ende der Vorherrschaft der Bewegung zum Sozialismus MAS. Die Partei regierte fast 20 Jahre und das zeitweise mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Künftig wird das Parteiensystem aus fünf oder sechs Parteien bestehen, die keine eigene Mehrheit haben. Die neue Regierung muss Koalitionen bilden, um Mehrheiten zu erreichen. Bolivien wird deshalb in eine Übergangsphase eintreten, in der sich das politische Feld neu ordnet.
Auseinandersetzungen gab es, weil das Verfassungsgericht eine Kandidatur von Evo Morales untersagte. Wie bewerten Sie dies?
Der Artikel 168 der bolivianischen Verfassung ist im Wortlaut eindeutig: Eine Wiederwahl nach einer Unterbrechung ist nicht verboten, ausgeschlossen ist nur eine kontinuierliche Wiederwahl für mehr als zwei Amtszeiten in Folge. Evo Morales könnte also kandidieren. Die Debatte um die Wiederwahl ist komplex, insbesondere nach der Nichtanerkennung der Ergebnisse des Referendums 2016, in dem eine Verfassungsänderung für eine erneute Kandidatur von Morales abgelehnt wurde sowie wegen der Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die unbegrenzte Wiederwahl 2017 als Menschenrecht zu bewerten und sie dann 2023 für ungültig zu erklären.
José Luis Exeni Rodríguez (57) ist bolivianischer Politologe und Journalist. Er war Präsident des Nationalen Wahlgerichts und Vizepräsident des Obersten Wahlgerichts Boliviens. Derzeit ist er Projektkoordinator bei der Friedrich-Ebert-Stiftung Bolivien.
Welche zentralen Themen prägen den Wahlkampf?
Die Wirtschaftskrise dominiert den Wahlkampf. Die Parteien sind sich einig, dass Maßnahmen notwendig sind, unterscheiden sich jedoch in der Herangehensweise. Die neue Regierung muss Entscheidungen treffen, um die hohe Inflation sowie die Knappheit an Kraftstoff und Devisen zu bekämpfen. Die könnte zu Konflikten führen, da die Regierungsfähigkeit nicht nur von einer parlamentarischen Mehrheit abhängt, sondern auch von der Unterstützung durch die Menschen auf der Straße.
Morales hat seine Anhänger*innen aufgefordert, ungültige Stimmzettel abzugeben. Welche Konsequenzen hat das?
Morales wird versuchen, die ungültigen Stimmen für sich zu nutzen. Eine hohe Anzahl ungültiger Stimmen könnte die Legitimität der nächsten Regierung beeinträchtigen. Da die Sitzverteilung im Parlament nur auf gültigen Stimmen basiert, könnte die Rechte bei einem guten Ergebnis zwei Drittel der Sitze erhalten. Das ist kritisch, weil sie dann beispielsweise eine Verfassungsreform durchsetzen könnte. Ein erheblicher Teil der Wählerschaft ist aber noch unentschlossen.
Welche Rolle spielen die Stimmen der indigenen Bevölkerung und der jungen Wähler*innen für den Ausgang der Wahl?
In den vergangenen Jahren unterstützte die indigene, ländliche Bevölkerung die MAS. Ein Bauernführer sagte dazu einmal: »Wir gehören nicht zur MAS, die MAS gehört uns.« Bei dieser Wahl gibt es jedoch einen Teil dieser Bevölkerung, der sich nicht vertreten fühlt. Die Stimmen der jungen Wähler*innen sind relevant, da sie 35 Prozent bis 45 Prozent der Wählerschaft ausmachen. Besorgniserregend ist, dass eine Mehrheit der Erstwähler*innen der Demokratie skeptisch gegenüber steht und eine autoritäre Regierung akzeptieren würde.
Wie sehen Sie die zukünftige Rolle der Linken, insbesondere der MAS, und der sozialen Organisationen in Bolivien?
Ich hoffe, dass es in der Linken Raum für Selbstkritik und für Debatten geben wird. Die MAS wird zwar ihren Zyklus beenden, aber nicht verschwinden. Soziale Akteure wie der Gewerkschaftsverband der Landarbeiter*innen CSUTCB und die Organisation indigener Frauen »Bartolinas«, die ein solide Basis der nationalen Volksbewegung bilden und eine lange Tradition haben, werden weiterhin bestehen. Diese Organisationen sind auch pragmatisch und sollten sich erneuern.
Warum wurden Themen wie Bildung, Umweltschutz und Geschlechtergerechtigkeit im Wahlkampf praktisch ignoriert?
Die Zivilgesellschaft Boliviens ist geschwächt und polarisiert. Die Herausforderungen bestehen darin, ihre Kämpfe zu koordinieren und ihre Themen auf die politische Tagesordnung zu setzen. Kurzfristig wird das schwierig sein, da die neue Regierung sich vorrangig mit der Wirtschaftskrise beschäftigen wird. Wichtig ist in der kommenden Transitionsphase nicht nur Widerstand, sondern auch eine Neugestaltung des politischen Systems und der Gesellschaft selbst.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.