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Die letzten Äcker von Mexiko-Stadt
In Xochimilco halten Kleinbauer*innen an der alten Chinampa-Tradition fest. Sie trotzen dem Wassermangel und den Touristenmassen
»Meine Großmutter hat mir dieses Stück Land gegeben, um darauf zu leben. Sie sagte mir: ›Verkauf es nicht!‹« David Jiménez Garcés lässt den Blick durch seine abgedunkelte Brille über die umliegenden Felder wandern. Er rückt seinen Strohhut zurecht und fährt fort: »All die Paisanos von hier, wir haben unsere Chinampas nicht verkauft.«
Der 59 Jahre alte Bauer ist einer der »Paisanos«, der alteingesessenen Bewohner*innen von San Gregorio Atlapulco – in Xochimilco, einem Bezirk im Südosten von Mexiko-Stadt. Trotz schwieriger Bedingungen bauen sie weiterhin Obst, Gemüse und Blumen auf den Chinampas genannten Feldern am Stadtrand an. Dass er im Alter von 60 Jahren noch als Landwirt leben würde, hätte er als Jugendlicher nicht gedacht. Schließlich hörte es Jiménez’ Generation immer wieder, dass es erstrebenswerter sei, an die Universität zu gehen und Arbeit in den urbaneren Teilen der Stadt zu suchen.
Auch er begann als junger Erwachsener ein Studium und ließ Xochimilco und das ländlichere Leben für über ein Jahrzehnt hinter sich. Doch noch bevor er seinen Abschluss als Ingenieur machte, kehrte er wieder zurück zu den Chinampas. »Die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen machten keinen Sinn für mich. Ich mochte auch nicht die ewig langen, täglichen Fahrten zum Arbeitsort. Also bin ich dorthin zurückgekehrt, wo ich mich zugehörig fühle. Ich habe wieder angefangen, mich dem Anbau zu widmen«, erzählt er mit einem leichten Schmunzeln. Er ist zufrieden mit dieser Entscheidung. Es war die richtige.
Chinamperos wie Jiménez tragen dazu bei, dass der Großraum von Mexiko-Stadt, in dem über 21 Millionen Menschen leben, mit Obst und Gemüse versorgt werden. Auf ihren Feldern in Xochimilco bauen die Chinamperos jährlich zwischen 190 000 und 500 000 Tonnen Obst und Gemüse an, wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Fao) kürzlich bilanzierte. Das reicht aus, um 250 000 bis 500 000 Menschen in Mexiko-Stadt zu versorgen.
Der Obst- und Gemüseanbau hat in Xochimilco eine lange Tradition. Unter gleißender Mittagssonne, begleitet vom Klang des Vogelgezwitschers und dem Geruch der Wasserpflanzen erklärt Jiménez den Ursprung der komplexen Anbaumethode: Die Chinampería wurde vor über tausend Jahren von dem Nahua-Volk Xochimilca entwickelt und von den in der Region ankommenden Azteken übernommen. Das lokal verbreitete Schilfrohr half dabei, Plattformen über dem damals noch existierenden Texcoco-See zu bauen, auf denen dann durch die Schichtung von Erde und den Halt der Wurzeln der Pflanzen Inseln entstehen konnten. Auf diesen künstlichen Inseln entstand die Mexica-Zivilisation und mit ihr die Metropole Tenochtitlán – das heutige Mexiko-Stadt. Ungefähr 2000 Hektar Chinampas dienten als Grundlage für die Ernährung von Tenochtitlán.
Wassermangel und Tourismusdruck
Heute gibt es in Xochimilco eines der wenigen Überbleibsel des damals riesigen Texcoco-Sees und die einzige verbliebene Chinampa-Zone, die weiterhin Lebensmittel produziert. Doch diese traditionsreiche Art der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist bedroht: Denn das Feuchtgebiet wird zunehmend touristisch erschlossen, das Wasser als wichtige Ressource ausgebeutet und die bäuerliche Arbeit nicht wertgeschätzt.
»Hier in San Gregorio gab es mehr als 18 Trinkwasserbrunnen, die übermäßig ausgebeutet wurden. Sie haben Wasser als Ressource entnommen, aber keine Arbeit in die Erhaltung unserer Felder gesteckt.«
Tomás Rufino Norato Kleinbauer
Doch Chinamperos wie Jiménez halten an ihrem Leben fest und erheben Einspruch. San Gregorio Atlapulco, ein indigener Gemeindeteil von Xochimilco, ist ein wichtiger Ort für die Organisierung der Proteste. Zusammen mit David Jiménez engagiert sich der 61 Jahre alte Chinampero Tomás Rufino Norato im Widerstand. Er wuchs in San Gregorio Atlapulco auf und baut seit Jahrzehnten Gemüse an. Seine Stimme ist rau und wird wehmütig, wenn er vom Kontrast zwischen »der goldenen Epoche der Chinampas« in seiner Kindheit und Jugend und der aktuellen Situation in der Gemeinde erzählt. Die Entnahme von Wasser sieht Rufino als eine der Hauptursachen für aktuelle Probleme an: »Hier in San Gregorio gab es mehr als 18 Trinkwasserbrunnen, die mit der Zeit übermäßig ausgebeutet wurden. Sie haben Wasser als Ressource entnommen, aber keine Arbeit in die Erhaltung des Territoriums gesteckt.«
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschied die Regierung von Mexiko-Stadt, das Wasser aus Xochimilco mittels eines Aquädukts in wohlhabendere Stadtviertel umzuleiten. Bis heute wird Wasser aus dem Dorf abgepumpt – aus Atlapulco, dessen Name »Ort des hervorquellenden Wassers« bedeutet. Die Folgen sind verheerend: Während früher das Kanalwasser zur Bewässerung der Felder genutzt werden konnte, sind manche der einst schiffbaren Wasserstraßen heute völlig versiegt. Der sinkende Wasserpegel hat dramatische Auswirkungen: Schadstoffe, die zuvor stark verdünnt waren, erreichen nun gefährliche Konzentrationen. Das ökologische Gleichgewicht gerät aus den Fugen – invasive Arten breiten sich aus, während einheimische Spezies verschwinden.
»Mit unserem Wasser hat sich ein großer Teil von Mexiko-Stadt entwickelt«, beschwert sich Jiménez. »Besonders die luxuriösen Stadtteile sind auf der Grundlage der Zufuhr von Wasser aus San Gregorio gewachsen.« Seit Jahrhunderten schon wird die Peripherie von der Großstadt ausgebeutet. Und es verwundert auch nicht, dass jene, die den urbanen Lifestyle lieben, geringschätzig auf die bäuerliche Arbeit blicken.
Mit einer Arroganz der Stadtbewohner*innen könnten viele der Chinampas leben. Doch der Preisdruck der industriellen Landwirtschaft setzt ihnen erheblich zu. Sie bauen ihr Obst und Gemüse nachhaltig an und verzichten auf Insektizide. Mit den niedrigen Preisen der Konzerne können sie oft nicht mithalten. Viele Chinampas haben die Landwirtschaft schon aufgegeben und setzten auf Tourismus.
Xochimilco ist ein beliebtes Ausflugsziel geworden. Früher transportierten kleine Lastboote Lebensmittel durch die Kanäle. Heute fahren dort bunte Boote, auf denen sich Tourist*innen an den Wochenenden betrinken. Auf den fruchtbaren Feldern sind Restaurants und Vergnügungsressort entstanden.
Dabei ist der Erhalt des Feuchtgebietes für die Region wichtig. Die Chinampas sind nämlich nicht nur landwirtschaftliche Fläche, sondern auch die grüne Lunge für die Metropole Mexiko-Stadt. Sie saugen tonnenweise giftige Gase aus einer der am stärksten verschmutzten Städte der Welt. Die Fao hat die Chinampas daher zu einem weltweit bedeutenden landwirtschaftlichen Erbe ernannt. Auch die Unesco benannte sie als Feuchtgebiet von globaler biologischer und kultureller Bedeutung.
Kampf um Land und Wasser
Die Titel scheinen bislang allerdings kaum zum Schutz des bedrohten sozialen und ökologischen Systems beizutragen. Vielmehr scheinen sie einigen lokalen Behörden dazu zu dienen, internationale Gelder abzugreifen, ohne das Feuchtgebiet tatsächlich zu schützen. Das frustriert David Jiménez: »Es ist, als hättest du einen todkranken Patienten, und damit einen Vorwand internationale Unterstützung zu beantragen.« Daraus entstehe dann eine eigene Dynamik: »Wenn der Patient, in diesen Fall die Chinampa, wieder gesund wird, fehlt die Basis, um Gelder zu bekommen.«
Auf die Stadt sei kein Verlass, meint auch Rufino. »Sie haben uns im Stich gelassen und Projekte durchgesetzt, die nicht mit der Bevölkerung vor Ort abgesprochen waren.« Dabei gibt es eigentlich eine Vereinbarung, dass die Gemeinde vor drei Jahren durch Proteste und Blockaden mit der Stadt erreicht hat. Demnach ist sie dazu verpflichtet, uns zu befragen, bevor weitere Förderbrunnen erschlossen und Infrastrukturprojekte umgesetzt werden. Verheerend wirkte sich der Bau einer Brücke in Xochimilco aus, den die heutige Präsidentin Claudia Sheinbaum während ihrer Zeit als Gouverneurin von Mexiko-Stadt (2018–2023) umsetzte. Der Bau führte zu noch mehr Trockenheit im bedrohten Feuchtgebiet. Sheinbaum setzte das Projekt trotz Proteste der umliegenden Gemeinden durch.
Das hat Vertrauen zerstört. Viele Einwohner*innen aus San Gregorio Atlapulco verlassen sich schon lange nicht mehr auf Institutionen. Sie wollen nicht ihr Wasser und ihr Land aufgeben – und wenn es sein muss, werden sie unbequem. Nicht ohne Grund werden sie nach der lokalen Chilisorte »Chicuarotes« benannt. »Ein Chicuarote ist stur, unnachgiebig. Diese Hartnäckigkeit hat es uns ermöglicht, standhaft zu bleiben im Kampf mit dem Entwicklungsmodell von Mexiko-Stadt« bekräftigt Jiménez nicht ohne Stolz.
David Jiménez und Tomás Rufino lehnen das städtische Entwicklungsmodell ab, das auf der Ausbeutung eines Territoriums beruht. Sie bleiben in San Gregorio Atlapulco, um einen Gegenentwurf umzusetzen. Die Chinampa ist ein Beispiel für eine Landwirtschaft, die sich um das Ökosystem kümmert und eine ländliche Kultur bewahrt.
»In der Umgebung sind wir fast schon zu einer Ikone des Widerstands geworden, weil wir in den Augen manch anderer Gemeinden an vorderster Front dieses Kampfs stehen«, erklärt Jiménez. Er wird stur und standhaft wie ein Chicuarote bleiben und weiterhin Gemüse auf seinen Chinampas anbauen, so wie seine Großmutter es wollte. Auch Tomás Rufino ist entschlossen: »Wir verteidigen unser Territorium, unser Wasser, unser Land. Das hier ist unsere Art zu leben!«
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