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Hungerkatastrophe in Gaza – Zeit für Sanktionen
UN-Gremien warnen vor massenhaftem Kindersterben, Israel kontert die Feststellung mit Propaganda, Deutschland sollte handeln
Nach mehr als einem Jahr warnender Hinweise erklärte das UN-unterstützte Expertengremium »Food Security Phase Classification« (IPC) am Freitag erstmals, dass in Teilen des Gazastreifens eine Hungersnot herrscht. Laut IPC ist das Leben von 132 000 Kindern unter fünf Jahren wegen Unterernährung bedroht, wobei bis Ende September mehr als die Hälfte aller Kinder im Gazastreifen unter akuter Mangelernährung leiden werde.
Als Reaktion forderten die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisationen, das Welternährungsprogramm, die Weltgesundheitsorganisation sowie das Kinderhilfswerk (Unicef) in einem gemeinsamen Statement eine unmittelbare Waffenruhe sowie ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe nach Gaza. Die Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell erklärte: »Wie wir wiederholt gewarnt haben, waren die Anzeichen unübersehbar: Kinder mit ausgemergelten Körpern, zu schwach zum Weinen oder Essen, Babys, die an Hunger und vermeidbaren Krankheiten sterben, Eltern, die mit nichts mehr in den Kliniken ankommen, um ihre Kinder zu ernähren.«
Während UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk die Hungersnot als »direkte Folge der Maßnahmen der israelischen Regierung« bezeichnete, verwarf Israels Premier Benjamin Netanjahu den Bericht des IPC als »Lüge« und behauptete – entgegen der Einschätzung der gesamten internationalen humanitären Gemeinschaft –, dass Israel eine »Politik der Hungervermeidung« verfolge.
Wie das israelische Kriegsregime versucht, die Konsequenzen seiner gezielten Aushungerungspolitik in Gaza zu vertuschen, lässt sich online an Werbeanzeigen ablesen, die seit Wochen Kanäle wie Youtube mit Desinformationen überfluten. Darin wird entweder die UN als Saboteur und Ursache der Nahrungsnot diffamiert oder – in völligem Widerspruch dazu – suggeriert, dass in Gaza gar kein Mangel an Lebensmitteln herrsche.
So werden etwa Propaganda-Videos von vermeintlich belebten Fastfood-Restaurants in Gaza geschaltet: »Es gibt Lebensmittel in Gaza. Jede andere Behauptung ist eine Lüge.« Beauftragt werden die Anzeigen vom israelischen Außenministerium.
Zivilisten zahlen den Preis
Während die israelische Armee und das Kriegskabinett weiterhin die Mär einer humanitären Kriegsführung verbreiten und die zivilen Opferzahlen als Hamas-Propaganda abtun, zeigen Recherchen der israelischen und palästinensischen Onlinemedien +972 Magazine und Local News sowie dem »Guardian«, dass bis Mai 2025 rund 83 Prozent der Todesopfer in Gaza Zivilisten waren. Die Angaben basieren auf einer internen Datenbank des israelischen Geheimdienstes.
Schätzungen der Opferzahlen insgesamt reichen von konservativen 60 000 laut Vereinten Nationen bis über 80 000 – Stand Januar 2025 – nach einer unabhängigen Studie, die auch Hunger, Krankheiten und die gezielte Zerstörung des Gesundheitssystems einbezieht. Nach Recherchen des »nd«-Autors Yossi Bartal sind sogar diese Schätzungen weit untertrieben.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Folgen der nun angekündigten erweiterten israelischen Invasion unschwer ausmalen: Gaza-Stadt ist laut IPC besonders von der Hungersnot betroffen, das israelische Verteidigungsministerium rechnet laut Times of Israel mit der Vertreibung von einer Million Menschen. Der Einmarsch hat bereits begonnen: Bombardierungen und Vorstöße von Truppen hinterlassen massive Zerstörungen, wie Ärzte ohne Grenzen am Freitag erklärte. Die eigentliche Großoffensive soll beginnen, wenn die vergangene Woche verkündete Mobilisierung von 60 000 Reservisten abgeschlossen ist.
Auf den jüngsten Waffenstillstands-Vorschlag von Ägypten, Katar und den USA reagierte Netanjahu ablehnend. Laut »Haaretz« setzt er darauf, dass sein Gegenvorschlag von der Hamas abgelehnt wird, um den Krieg weiter eskalieren zu können – entgegen den Forderungen Tausender Protestierender in Israel.
Auch im besetzten Westjordanland schaffen die israelischen Machthaber Fakten: Finanzminister Smotrich kündigte die Umsetzung des seit Jahren umstrittenen »E1«-Siedlungsplans an. Während Beobachter darin das Ende eines zusammenhängenden palästinensischen Staates sehen, wird Deutschland seiner Rolle als wichtigster Handelspartner Israels in Europa und zweitgrößter Waffenlieferant gerecht – als politischer und wirtschaftlicher Schutzschirm.
Deutsche Mitverantwortung
Derweil tut die Bundesregierung weiterhin so, als würde sie geflissentlich auf das Ziel einer Zweistaatenlösung hinarbeiten. Ihre Appelle an eine humanitäre Kriegsführung, Zugang für humanitäre Hilfe und ein Ende illegaler Besatzungspolitik verhallen an der Realität, die Israels Machthaber vor Ort schaffen.
Für diese Realität in Gaza und dem Westjordanland ist Deutschland als größter Handelspartner Israels in Europa, zweitwichtigster Lieferant von Rüstungsgütern sowie als diplomatischer Schutzschirm vor internationalen, wirtschaftlichen und strafrechtlichen Konsequenzen maßgeblich mitverantwortlich. Weder die deutsche Luftbrücke nach Gaza ändert etwas daran noch die nach Unions-internem Verrats-Geraune verkündete Einschränkung von Waffenlieferungen.
Wie unbeeindruckt Netanjahu von diesen Schritten war, zeigte die unmittelbar folgende Ankündigung der Groß-Offensive auf Gaza und die Umsetzung weiterer Siedlungsprojekte. Bei genauem Hinsehen ist das kaum überraschend: In den Medien wenig rezipiert, aber für die Sache ganz zentral, hat die Bundesregierung ja nicht bereits genehmigte Lieferungen gestoppt, sondern lediglich weitere Ausfuhrgenehmigungen von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können.
Gegen Zweistaatenlösung
Die israelische Führung und die Bundesregierung wissen, dass Israels Armee deutsche Waffen nicht benötigt, um Gaza in Schutt und Asche zu legen. Die eigentliche Abhängigkeit von Seiten Israels – neben Zugang zu deutschen Absatzmärkten – liegt in der Lieferung millionenschwerer und maßgeschneiderter U-Boote, die Israels nuklearer Flotte dienen – und deutsche Werften mit Aufträgen versorgen.
Wirtschaftliche Sanktionen, das einzige Mittel, um die israelische Führung wirksam unter Druck zu setzen, schloss Merz bekanntermaßen direkt aus, entgegen der Rufe europäischer Verbündeter und eines Gutachtens der EU-Kommission, welches die Bedingungen des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel – die Achtung von Menschenrechten – als verletzt ansieht. Gemeinsam mit autokratischen Partnern wie Viktor Orbán stellt sich Deutschland erneut stramm an die Seite Netanjahus, im Namen deutscher Wirtschaftsinteressen und Identitätswahrung im Namen der Staatsräson. »Den Preis für die deutsche Absolution zahlen andere«, wie Daniel Marwecki die deutsche Israelpolitik betreffend beschreibt.
Bezüglich Sanktionen bleibt es somit das Höchste der Gefühle politischer Entscheidungsträger*innen in Deutschland, Sanktionen gegen Institutionen und Personen der »Siedlerbewegung« zu fordern. Damit wird vertuscht, was rechtsextreme Minister und Netanjahu explizit sagen: Besiedlung und Annexion palästinensischer Gebiete sind staatliche Politik und Selbstverständnis, die dem Ziel dienen, einen wie auch immer aussehenden palästinensischen Staat zu verunmöglichen.
Entgegen dem öffentlichen Beschwören der Zweistaatenlösung ist hinter den Kulissen deutscher Außenpolitik lange bekannt, dass diese rhetorische Formel wenig mit den Bedingungen in den über Jahrzehnte gezielt zerstückelten besetzten palästinensischen Gebieten zu tun hat. Im Juni 2023 sprach der ehemalige außenpolitische Berater der Merkel-Regierung, Christoph Heusgen, dies gegenüber dem »Spiegel« deutlich aus: »Wir sind intellektuell nicht bereit einzugestehen, dass es keine Zweistaatenlösung geben wird.«
Mit Blick auf die eindeutigen Aussagen und Schritte der israelischen Führung gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die gegenwärtige Bundesregierung hier zu einer anderen Einschätzung gelangen könnte. Wenn die Bundesregierung die »Siedler« sanktionieren möchte, aber nicht anerkennt, dass dies letztlich die Sanktionierung einer Politik bedeuten müsste, für die die Besiedlung der besetzten Gebiete zum Kern groß-israelischer Landnahme und verbundener Vertreibung gehören, dann täuscht sie der deutschen Öffentlichkeit humanitäre Tatbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein vor, wo keine sind.
Überfälliger Kurswechsel
Politische Kräfte in Deutschland – in den Medien, der Politik und Zivilgesellschaft – sind nun umso stärker aufgefordert, die Ziele und das Vorgehen der israelischen Führung in Gaza und dem Westjordanland ehrlich anzuerkennen und vehement ernstzunehmende Schritte der Bundesregierung einzufordern. Nach der Sommerpause sollen auf EU-Ebene Verhandlungen über eine Ende Juli eingebrachte Empfehlung der EU-Kommission beraten werden, Israel aus dem EU-Forschungsprogramm »Horizont Europa« teilweise auszuschließen.
Dies wäre ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, bei dem Deutschland als bevölkerungsreichstes Land der EU großen Einfluss hat. Die Mitverantwortung, die die gegenwärtige und letzte Bundesregierung für die völkermörderischen Kriegsverbrechen in Gaza trägt, würde damit nicht wettgemacht. Angesichts des Grauens, das sich in Gaza weiterhin vor aller Augen entfaltet, wäre es das Mindeste und der Beginn eines überfälligen Kurswechsels. Weitere Schritte wie die Suspendierung des EU-Assoziierungsabkommens müssen folgen.
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