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- »Hajnówka Fünf«
Wird polnischer Prozess Präzedenzfall?
Humanitären Helfern droht in Hajnówka nur wegen Hilfeleistung Gefängnis
Am Dienstag findet der vierte – und vielleicht letzte – Verhandlungstag gegen die »Hajnówka Fünf« in Polen statt. Ihr Prozess ist benannt nach der zweisprachigen Kleinstadt Hajnówka nahe der Grenze zu Belarus am Rande des Białowieża-Urwalds, einem Unesco-Weltnaturerbe. Ewa, Asia, Kamila, Mariusz und Marc stehen dort wegen »Erleichterung des illegalen Aufenthalts« vor dem Bezirksgericht, die Staatsanwaltschaft fordert für sie fünf Jahre Haft.
Der Ausgang des Prozesses könnte zum Präzedenzfall werden und sich besonders auf das humanitäre Engagement in Polen auswirken. Denn sollte es zu einer Verurteilung kommen, wäre es der erste Fall in Europa, in dem Menschen ausschließlich wegen humanitärer Hilfe strafrechtlich belangt würden – ohne zusätzliche Vorwürfe wie Schleusung oder Beihilfe zur illegalen Einreise. Deshalb löst dieser Fall in Polen Empörung und breite Solidarität mit den Angeklagten aus: Die bisherigen drei Verhandlungstage waren begleitet von Protesten gegen die Kriminalisierung menschenrechtlicher Arbeit.
Gegner der fünf Aktivist*innen ist nicht nur der polnische Staat: Der Anwalt Bartosz Malewski vertritt den ultrakonservativen Think Tank Ordo Iuris und die nationalistische Bewegung Marsz Niepodległości (Unabhängigkeitsmarsch), die beide als Nebenklage auftreten. Damit soll der Druck auf eine harte Bestrafung der Angeklagten erhöht werden.
Schon 2016 zog der Urwald bei Hajnówka internationale Aufmerksamkeit auf sich, als die polnische Regierung begann, dort großflächig abzuholzen. Aktivist*innen ketteten sich an Bäume und blockierten Forstmaschinen, bis der Europäische Gerichtshof entschied, dass die staatlichen Maßnahmen gegen EU-Naturschutzrecht verstießen.
Ab Herbst 2021 stand der Wald erneut im Fokus: Über Belarus gelangten zunehmend Geflüchtete aus dem Irak, Iran, Syrien und Afghanistan durch das schwer zugängliche Gebiet nach Polen. Viele Geflüchtete verirren oder verletzen sich im Białowieża-Urwald oder bleiben im Moor stecken. In den vergangenen vier Jahren wurden laut der Initiative We Are Monitoring an der polnisch-belarussischen Grenze 97 Tote gefunden.
Die Regierung in Warschau reagierte auf die humanitäre Krise von Anfang an mit Abschottung. Sie rechtfertigt diese Maßnahmen mit dem Verweis auf einen angeblich »hybriden Krieg«: Belarus locke gezielt Migrant*innen an die Grenze, um Polen und die EU zu destabilisieren. Trotzdem bildeten sich in der Region zahlreiche Initiativen zur Unterstützung, falls jemand im Wald in Not gerät. Wird ein Hilferuf abgesetzt, brechen sie auf, mit heißem Tee, Decken, Schuhen und medizinischer Ausrüstung im Gepäck.
Es sind heikle Einsätze, die nur Menschen übernehmen, die sich gut auskennen – nicht nur geografisch, sondern auch mit ihren Rechten und denen der Geflüchteten. Denn immer wieder kommt es wie im Fall der Hajnówka-Fünf zu folgenschweren Begegnungen mit der Grenzpolizei.
Der Vorfall, der nun in Hajnówka zu Ende verhandelt wird, ereignete sich 2022. Die Angeklagten engagierten sich damals als unabhängige humanitäre Helfer*innen in der Region. Am 22. März trafen sie auf eine irakische Familie mit sieben Kindern und einen Mann aus Ägypten, die offenbar seit Tagen nichts gegessen oder getrunken hatten, und leisteten ihnen deshalb die notwendige Versorgung.
Nach eigenen Angaben hatten die Hajnówka-Fünf anschließend vor, die Geflüchteten in die nächste Stadt zu bringen, da sie aus ihrer Sicht medizinische Hilfe benötigten. Medienberichten zufolge wurde die Gruppe nach etwa 13 Kilometern von der Grenzpolizei gestoppt. Die Staatsanwaltschaft erhob deshalb zunächst den Vorwurf der »Schleusung«, ließ diesen aber später fallen, da kein persönlicher Vorteil aufseiten der Angeklagten erkennbar war. Die Begegnung der beiden Gruppen hatte zudem bereits auf polnischem Territorium stattgefunden, eine angebliche »Schleusung« folglich schwer zu begründen. Deshalb lautet die Anklage nun: »Erleichterung des illegalen Aufenthalts«.
Ewa, eine der Angeklagten, erklärte zum Hintergrund des Vorfalls gegenüber »nd«, dass ein Zurücklassen der Menschen bedeutet hätte, sie der Gefahr einer gewaltsamen Rückführung durch die polnischen Grenztruppen auszusetzen. Sie selbst war an der vorgeworfenen Tat nicht beteiligt, hatte laut Anklage aber Kontakt zu den anderen – und war aus Sicht der Staatsanwaltschaft so indirekt Teil der Aktion.
Am zweiten Verhandlungstag hatte die Staatsanwaltschaft überraschend die Zulassung von Daten aus einem beschlagnahmten Handy beantragt, das im Auto der Angeklagten gefunden wurde. Screenshots von Chats sollen Routen in andere EU-Staaten und Hinweise zum Umgang mit dortigen Behörden enthalten. Damit will die Justiz den Vorwurf auf »Organisation der illegalen Grenzüberquerung« ausweiten, was mit bis zu acht Jahren Haft bestraft werden kann. Ob die neuen Beweise zugelassen werden und Folgen für das Verfahren haben, entscheidet sich womöglich ebenfalls am Dienstag.
Der Prozess gegen die Hajnówka-Fünf ist auch von Bedeutung, weil es seit 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze regelmäßig zu Problemen zwischen Militär und Grenzschutz mit Aktivist*innen, aber auch entweder solidarischen oder flüchtlingsfeindlichen Anwohner*innen kommt. Die Regierung hat an der Grenze einen fünf Meter hohen und mit moderner Überwachungstechnologie ausgestatteten Zaun errichtet. Gezielt hält sie humanitäre Organisationen und Journalist*innen mit einer bis zu zwei Kilometer breiten Pufferzone vom Grenzgebiet fern.
Warschau begründet die Maßnahmen damit, dass das Gebiet frei von Störungen bleiben müsse, damit Militär und Grenzschutz gut operieren könnten. Hilfsorganisationen vermuten dahinter indes den Versuch, unbeobachtet Menschenrechte verletzen zu können. Denn die Helfenden wären in der Region mitunter Zeug*innen von Asylgesuchen, die von den Behörden nach EU-Recht entgegengenommen und bearbeitet werden müssten. Sie könnten auch illegale Pushbacks nachverfolgen und dokumentieren. Das Urteil gegen die Hajnówka-Fünf entscheidet deshalb mit darüber, ob Helfen in Zukunft so riskant wird, dass immer weniger Menschen diese Beobachterfunktion übernehmen können.
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