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- »Reform« des Sozialstaates
Hilflos gegenüber den Machteliten
Heinz-J. Bontrup über den anstehenden Sozialkahlschlag unter Schwarz-Rot
Der Sozialstaat sei in Deutschland nicht mehr finanzierbar, sagt Kanzler Friedrich Merz (CDU). So denken auch andere Neoliberale in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien. Es war klar, dass die schwarz-rote Regierung den Sozialstaat angreifen wird. Wenn auch zurzeit die SPD noch links blinkt, wird sie am Ende, wie immer, rechts abbiegen und die Kürzungen mittragen. Das wird der AfD in die Karten spielen. Schon am Ende der ersten deutschen Demokratie war die herrschende Politik der Meinung, man müsse den Systemverlierern auch noch das letzte Hemd nehmen. Wohin das führte, ist hinlänglich bekannt.
Der Sozialstaat ist eine Demokratiestütze und stützt in der Krise die kapitalistische Wirtschaft über automatische Konjunkturstabilisatoren. Solange der Staat außerdem gigantische parasitäre Rüstungsausgaben in den nächsten Jahren in Höhe von 500 Milliarden Euro auf Pump tätigen kann, erübrigt sich jegliche gesellschaftliche Diskussion über angeblich zu hohe Sozialausgaben. Die größte Belastung der deutschen Volkswirtschaft ist nicht der grundgesetzlich abgesicherte Sozialstaat, sondern die seit Jahrzehnten zu finanzierende Arbeitslosigkeit und der zusätzlich geschaffene Niedriglohnsektor mit seinem Arbeitsprekariat und Armenspeisungen über zum Beispiel die Tafeln. Wäre die Wirtschaft bei auskömmlichen Arbeitsentgelten vollbeschäftigt, so würde keiner über Renten, Krankenkassen- und Pflegebeiträge sich den Kopf zerbrechen müssen. Auch ein Bürgergeld könnte dann als ultima ratio armutsfrei ausgestattet werden.
Heinz-J. Bontrup ist Autor, Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Professor.
Über eine dezidierte Vollbeschäftigungspolitik wird in der Regierungskoalition aber nicht einmal diskutiert. Das war jedoch in den Vorgängerregierungen auch nicht der Fall. Hier manifestiert sich die ganze Unfähigkeit – oder sollte ich sagen: Hilflosigkeit der herrschenden Politik – gegenüber den Machteliten in der Wirtschaft. Theodor Adorno und Max Horkheimer würden hier von einer »privilegierten Komplizenschaft« sprechen.
Und es gibt neben der Arbeitslosigkeit eine zweite gesellschaftliche Belastung: Die nicht arbeitenden Mehrwertempfänger im Land, die auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ein sorgenfreies Leben führen und sich sogar weigern, zumindest adäquate Steuerzahlungen zu leisten. Dies bezieht sich auf Einkommen- und Vermögensteuern. Es fehlt in Deutschland die politische Umsetzung einer großen gerechten Steuerreform. Dass hier noch einmal der Körperschaftsteuersatz in den nächsten Jahren von zurzeit 15 auf zehn Prozent gesenkt wird, spottet dabei jeder Beschreibung. Die SPD mit ihrem Vizekanzler Lars Klingbeil hat dies, noch nicht 100 Tage im Amt, ohne Umstände mitgemacht, genauso wie Abschreibungserleichterungen für gewinnträchtige Unternehmen, die völlig überflüssig sind.
Steuerreform heißt auch eine unnachgiebige Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Aktuelle Schätzungen gehen hier, je nach Definition, von 100 bis 125 Milliarden Euro Steuerausfällen pro Jahr aus. Wir müssen also über Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor, Arbeitsprekariat, große Steuerreform und Steuerhinterziehung diskutieren und nicht über eine weitere Beschneidung des Sozialstaats.
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