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Streit vor dem »Herbst der Reformen«
Kanzler erklärt Sozialstaat für nicht mehr finanzierbar, Vizekanzler will Ungerechtigkeiten vermeiden
Die schwarz-rote Koalition steht zum Ende der politischen Sommerpause vor einer harten Debatte über Sozialreformen. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) pochte am Samstag auf eine grundlegende Reform der sozialen Sicherungssysteme und sagte, er wolle es dem Koalitionspartner SPD bei diesem Vorhaben »nicht leicht machen«. SPD-Chef Lars Klingbeil warnte vor einer einseitigen Belastung für Arbeitnehmer. Juso-Chef Philipp Türmer zog eine rote Linie: Bei Sozialkürzungen werde die SPD nicht mitmachen.
Merz zeigte sich in einer Rede beim Landesparteitag der Niedersachsen-CDU in Osnabrück bereit zu einer harten Auseinandersetzung mit dem Koalitionspartner. »Ich werde mich durch Worte wie Sozialabbau und Kahlschlag, und was da alles kommt, nicht irritieren lassen«, sagte Merz. »Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.«
Die Koalition aus Union und SPD hat sich grundlegende Reformen der Sozialversicherungssysteme vorgenommen – etwa bei Bürgergeld, Rente und Krankenversicherungen. Hintergrund sind steigende Kosten und die Sparzwänge im Bundeshaushalt. Konkrete Vorschläge werden zum Teil in Fachkommissionen ausgearbeitet, im Herbst sollen erste Weichen gestellt werden.
Merz sagte in Osnabrück, er wisse, dass die anvisierten Sozialstaatsreformen in einer Koalition mit der SPD »nicht so ganz einfach« seien. »Das ist ein Bohren dicker Bretter.« Das Vorhaben sei »anstrengend für die Sozialdemokraten, für uns übrigens auch – und ich mache es denen auch bewusst nicht leicht«, sagte Merz. Der SPD riet Merz zu einer klareren Positionierung in der Migrations- und Wirtschaftspolitik – und dazu, sich in diesen Bereichen auf die Union zuzubewegen. »Wenn diese Partei die Kraft besitzt, migrationskritisch zu werden und industriefreundlich zu werden, dann hat diese Partei auch eine Chance, in der Regierung Tritt zu fassen«, sagte der CDU-Chef.
SPD-Chef Klingbeil warb für Reformen – und warnte zugleich vor Ungerechtigkeit: »Wir brauchen Strukturreformen, um die Beiträge dauerhaft stabil zu halten«, sagte Klingbeil den Funke-Zeitungen vom Samstag. »Dabei erwarte ich von allen Verantwortlichen mehr Phantasie als einfach nur Leistungskürzungen für die Arbeitnehmer.«
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) räumte klaren Reformbedarf bei den Sozialsystemen ein. »Wir geben sehr viel Geld aus, um den Sozialstaat zu verwalten, anstatt ihn zu gestalten.« Es gehe jetzt nicht einfach um die Kürzung von Sozialleistungen, sondern darum, Menschen in Arbeit zu versetzen.
Juso-Chef Türmer erklärte Sozialkürzungen zur roten Linie für die SPD und betonte, dass die Bürgergeldreform eine Gewissensfrage für die Abgeordneten darstellen könne. »Wenn die Idee hinter einem ›Herbst der Reformen‹ Sozial- und Leistungskürzungen sind, kann ich nur klipp und klar sagen: Die SPD darf da keinen Zentimeter mitgehen«, sagte Türmer der »Stuttgarter Zeitung« und den »Stuttgarter Nachrichten«. Auch bei der Reform des Bürgergeldes gelte: »Jeder Abgeordnete sollte gut prüfen, welcher Änderung er zustimmen kann«, sagte der Juso-Chef. »Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten gilt auch bei sozialen Themen.«
Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek warnte vor einem »Herbst der sozialen Grausamkeiten«. Aktuell sei zu erleben, »wie Arbeitsrechte und Sozialstaat in einer massiven Kampagne von Think-Tanks, Arbeitgeberverbänden und sogenannten Expertinnen und Experten angegriffen werden«, sagte Reichinnek. Die Union bilde »die Speerspitze der Angriffe«. Reichinnek forderte eine Reaktivierung der Vermögensteuer. AFP/nd
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