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Drohungen gegen Bürgermeister nach Tod einer 16-Jährigen
Friedland in Niedersachsen: Iraker verursachte mutmaßlich Tod eines ukrainischen Mädchens. Dies nutzen Rechte für Hetzkampagne
Ein Grablicht, ein eingerahmtes Foto, ein paar Blumen auf den Bahnsteig: Mehr erinnert auf dem Bahnhof des kleinen Ortes Friedland bei Göttingen derzeit nicht an den tragischen Tod eines ukrainischen Mädchens am 11. August. Ein 31-jähriger Asylsuchender aus dem Irak soll die 16-Jährige gegen einen mit Tempo 100 durch den Bahnhof fahrenden Güterzug gestoßen haben. Der Tatverdächtige gilt als psychisch krank. Seit seiner Festnahme am vergangenen Freitag befindet er sich im Maßregelvollzug in einem hoch gesicherten psychiatrischen Krankenhaus. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Göttingen waren zuvor DNA-Spuren des Mannes an der Schulter des Opfers gefunden worden.
Der von der Polizei zunächst nicht als Tötungsdelikt kommunizierte Vorfall hat zu extremer Hetze von rechts geführt. Im Fadenkreuz steht dabei unter anderem Friedlands SPD-Bürgermeister Andreas Friedrichs. Nachdem er in einem Interview mit dem NDR den Tod des Mädchens als »tragischen Unglücksfall« bezeichnet und gewarnt hatte, dass dieser für Hetzkampagne missbraucht werde, erhielt er weit mehr als 100 Drohmails und -anrufe.
Das »Göttinger Tageblatt« zitierte am Mittwoch aus den Mails an Friedrichs: »Sie haben das Herz eines KZ-Aufsehers!« Oder: »Mögen euch eure neuen Schützlinge auch vor den Zug werfen.« Und: »Es hätte eine Tochter vom Bürgermeister treffen müssen!« Zuvor hatte das rechte Onlinemedium »Nius« Friedlands Verwaltungschef angegriffen. »Bürgermeister verharmlost Mord«, titelte es.
»Ich habe nichts verharmlost, sondern ich habe mich an die Fakten gehalten, die mir vorgelegen haben«, betont Friedrichs. Er habe sich nicht an Spekulationen beteiligen wollen. Friedrichs, seit mehr als 20 Jahren im Amt, ist einiges gewohnt. Eine solche Lawine an Beleidigungen und Drohungen wie jetzt hat er allerdings noch nicht erlebt: »Ganz ehrlich: Das fühlt sich nicht gut an.« Etliche der teilweise anonymen Absender bedrohten ihn auch mit dem Tod. »Man versucht, das nicht an sich herankommen zu lassen«, sagt Friedrichs. Das funktioniere aber nicht immer: »Plötzlich achtest du darauf, dass alle Jalousien geschlossen sind, stehst nachts auf und gehst morgens vor dem Losfahren sicherheitshalber zweimal um das Auto herum.«
Heftige Hetze gegen Friedrichs war Augen- und Ohrenzeugen zufolge auch am Montagabend bei einem sogenannten Trauermarsch im thüringischen Leinefelde zu hören. Rund 200 Menschen hatten sich daran beteiligt, aufgerufen hatte unter anderem der vorbestrafte Neonazi und Funktionär der Partei »Die Heimat« (früher NPD), Thorsten Heise. Der nannte Friedrichs einen »fürchterlichen Bürgermeister«, von dem er hoffe, dass er »aus dem Land gefegt werde«. Knapp 50 Gegendemonstranten riefen: »Gedenken statt Hetze.«
Unterdessen hat das Bürgerbündnis »Friedland ist bunt« für Samstagnachmittag einen Workshop für »Stammtischkämpfer*innen« gegen »rassistische Parolen und rechtsextreme Behauptungen« angekündigt. Am Sonntag (12 bis 15:30 Uhr) lädt es zu einer Veranstaltung »in Zeiten der Trauer: Hilfe statt Hetze« mit Redebeiträgen und Infoständen am Bahnhof sowie Hilfsangeboten für Trauernde, Opfer von Gewalttaten, in psychischen Krisensituationen und für Geflüchtete ein.
Unterdessen äußerte sich auch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) zu dem Fall. Weil der mutmaßliche Täter eigentlich bereits nicht mehr in Deutschland hätte sein sollen, forderte der CSU-Politiker, es müsse unbedingt geklärt werden, warum er zum Tatzeitpunkt noch da war. »Ich habe kein Verständnis dafür. Und ich bin auch wütend«, sagte Dobrindt am Mittwoch bei Welt TV.
Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) hatte bereits am Freitag gesagt, der Fall zeige einmal mehr die massiven Probleme des sogenannten Dublin-Verfahrens, das die Verteilung von Asylbewerben in der EU regelt. Demnach hätte der Verdächtige nach Litauen überstellt werden sollen. Dobrindt findet, der Vorfall in Friedland belege die »Dysfunktionalität dieses Systems«. Diesen Donnerstag will Niedersachsens Innenministerium den zuständigen Landtagsausschuss über den Fall informieren.
Die aktuellen Ereignisse lenken den Blick auch auf das frühere »Grenzdurchgangslager« Friedland, das im September auf sein 80-jähriges Bestehen zurückblickt. Als der von den Nazis losgetretene Zweite Weltkrieg vorbei war, überall in Deutschland Hunger, Chaos und Verzweiflung herrschten und Millionen Flüchtlinge und Vertriebene keine Bleibe hatten, ließ der britische Oberstleutnant Perkins die Viehställe eines Versuchsgutes der Universität Göttingen beschlagnahmen, um ein provisorisches Auffanglager zu errichten.
Der Ort lag strategisch günstig, drei Besatzungszonen trafen hier aufeinander, es gab eine nicht zerstörte Straße und einen Bahnhof. Schon bis Ende 1945 kamen eine halbe Million Menschen, vor allem aus den ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße sowie entlassene Kriegsgefangene. Als erste Behelfsunterkünfte dienten Schweine- und Pferdeställe. Später stellte man Armeezelte auf, errichtete Baracken und Wellblechhütten.
1955 handelte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) in Moskau die Freilassung der letzten rund 10 000 deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion aus. Viele von ihnen kamen zunächst in Friedland an und reisten von dort zu ihren Familien weiter. Im 2016 gleich neben dem Lager eröffneten Museum Friedland zeigen alte Fotos ihre ausgemergelten Gesichter und Körper.
Später fanden Flüchtlinge aus vielen Ländern Aufnahme in Friedland. Rund 3000 Ungarn, die nach dem gescheiterten Aufstand ihr Land verlassen hatten, erreichten das Lager 1956. In den 1970er Jahren kamen verfolgte Pinochet-Gegner aus Chile, später »boat people« aus Vietnam und Geflüchtete aus Albanien.
Heute ist die Einrichtung die einzige Anlaufstelle für sogenannte Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. 2011 wurde sie eine der Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Niedersachsen für Asylsuchende. Zudem ist der Standort für die Aufnahme der Niedersachsen zugewiesenen jüdischen Zuwanderer zuständig.
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