- Politik
- Russland
Eine Republik gegen Putins Gouverneur
Im Altai hat Andrei Turtschak mit seiner Politik die massivsten Proteste seit 20 Jahren ausgelöst
Mit ihren knapp 210 000 Einwohnern gehört die Republik Altai im südwestlichen Sibirien zu den kleinsten russischen Regionen. Und zu einer der ärmsten. Neuerdings müsste man auch sagen: zu einer der widerspenstigsten. Seit Juni gibt es im Altai Proteste, wie sie in Russland im vierten Kriegsjahr eigentlich nicht vorstellbar schienen. Bis zu 4000 Menschen sollen sich bisher an den Aktionen beteiligt haben, blockierten zeitweise eine wichtige Fernstraße in die Mongolei und weiter nach China. Beobachter sprechen von den größten Protesten in der Republik seit 20 Jahren.
Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen Gouverneur Andrei Turtschak und – wie schon vor 20 Jahren – gegen den möglichen Verlust des Autonomiestatus. Offiziell soll die Lokalverwaltung in der kleinen Republik reformiert und die kommunale Selbstverwaltung damit faktisch liquidiert werden. Doch die Protestteilnehmer sehen darin vor allem den ersten Schritt zur Abwicklung der nationalen Autonomie.
Reform der Selbstverwaltung zu Lasten nationaler Minderheiten
Seit März wird in Russland die kommunale Selbstverwaltung reformiert. Die Regionen erhalten nun das Recht, gewählte Dorfräte abzuschaffen. Offiziell soll damit Geld eingespart werden. Doch die Neuregelung benachteiligt die Landbevölkerung und sorgt vor allem in den Regionen mit nationalen Autonomien und einer gemischten Bevölkerung für Spannungen. Titularnationen, die meist in ihrer Republik in der Minderheit sind, sehen in der Reform die Bevorzugung der urbanisierten russischen Bevölkerung auf ihre Kosten.
Im Altai erwies sich das Thema als höchstexplosiv. Die turksprachigen Altaier bilden knapp 34 Prozent der Bevölkerung der Republik Altai, Russen sind mit 56 Prozent in der Mehrheit. In der ganzen Republik gibt es nur eine Stadt – die Hauptstadt Gorno-Altaisk.
Seit 1991 war mit Walerij Tschaptynow lediglich ein Altaier Präsident der Republik. Für die Protestierenden ist er ein Held, dessen Bild auf den Versammlungen stets präsent ist. Viele seiner Amtsnachfolger beherrschten nicht einmal Altaisch – neben Russisch Amtssprache in der Republik. Alexander Berdnikow, zwischen 2006 und 2019 Präsident, sorgte für Empörung, als er sich im Gespräch mit einem Blogger abfällig über die Altaier äußerte. Sein Nachfolger Oleg Chorochordin war bei den Menschen unpopulär, auch wegen seiner Alkoholsucht.
Andrei Turtschak machte sich im Rekordtempo unbeliebt
Im Juni 2024 wurde aus Moskau Andrei Turtschak zur Ablösung geschickt. In der Hauptstadt galt der Sohn des wichtigen Putin-Freundes Anatlij Turtschak lange Zeit als politisches Schwergewicht, hatte sich vom Gouverneur der Region Pskow zum Generalsekretär der Regierungspartei Einiges Russland und zum Stellvertretenden Sprecher des Föderationsrates, der Oberkammer der Legislative Russlands, hochgearbeitet. Dass Turtschak plötzlich aus seinen Ämtern geschasst und in die kleine unbedeutende Republik versetzt wurde, wurde als öffentliche Demütigung wahrgenommen. Gerüchte machten die Runde, die guten Verbindungen Turtschaks zu Jewgenij Prigoschin und seinen Wagner-Söldnern könnten der Grund sein.
Im Altai machte sich der gefallene Starpolitiker im Rekordtempo unbeliebt. Erst weigerte er sich, den Amtseid auf Altaisch abzulegen, um dann die Verfassung zu ändern. Die Unveränderbarkeit der Grenzen verschwand aus der Verfassung der Republik. Für die Menschen der Titularnation war das ein Signal für den Versuch, die Republik mit der angrenzenden Region Altai mit der Hauptstadt Barnaul zu vereinen. Dort stellen Altaier lediglich 0,1 Prozent der Einwohner – selbst Deutsche gibt es mit 2,2 Prozent der Bevölkerung viel mehr. Die gesamte Region, so die Befürchtung, soll weiter russifiziert werden.
Altaier fürchten Ausverkauf ihrer Republik
Auch mit seiner Personalpolitik machte sich Turtschak keine Freunde. Die Mutter des neuen Regierungschefs Alexander Prokopjew, Larissa, besitzt ein Pharmaunternehmen. Schnell wurde ihr Interesse an der Ausbeutung natürlicher Ressource öffentlich diskutiert. Auch Turtschak selbst wird die Ausbeutung der Natur vorgeworfen, setzt er doch die Politik seiner Vorgänger fort, die Republik für den Luxustourismus zu erschließen. Das lässt zudem die Preise im Altai steigen.
Die Protestierenden, überwiegend Altaier, sprechen vom »Ausverkauf der Republik an Oligarchen«. In Videos bitten »Veteranen der Spezialoperation« Präsident Putin um den Schutz »ihrer Heimat«. Turtschak, der stets den Ruf eines »Falken« pflegte, bezeichnete die Protestierenden als »Provokateure« und legte nach: »Ich denke, alle wissen, was man in Kriegszeiten mit Provokateuren gemacht hat.«
Auch wenn die Reform der kommunalen Selbstverwaltung mittlerweile beschlossen ist, hören die Proteste nicht auf. Für den Herbst haben die Altaier weitere Demonstrationen angekündigt.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.