Inklusion: »Wir gucken, was wir als Gemeinschaft hinkriegen«

Lorenz Geier über ein Wohnprojekt von Menschen, die auf unterschiedliche Weise marginalisiert sind

  • Interview: Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.
Wohnprojekt in München – Inklusion: »Wir gucken, was wir als Gemeinschaft hinkriegen«

Sie sind Teil eines Wohnprojekts, das sich ein Haus baut. Was wird das für ein Haus?

Uns geht es um ein solidarisches Wohnen, dafür wollen wir einen Ort schaffen. Ziel ist, dass hier ein Raum entsteht, in dem alle Marginalisierten zusammenkommen können: Behinderte und nicht behinderte Menschen, queere, geflüchtete Menschen, Menschen mit Kindern und ohne, auch Leute mit wenig Geld, zum Beispiel Studenten. Klassische Wohnungen sind nicht im Konzept vorgesehen, es ist eine offene Struktur mit großen Gemeinschaftsräumen. Und im Erdgeschoss soll eine Art halböffentlicher Raum entstehen, teils Café, teils Coworking-Space, aber da können auch Veranstaltungen stattfinden oder Ausstellungen.

Wenn Sie »Behinderte« sagen, meinen Sie vor allem körperlich behinderte Menschen?

Das kann man nicht immer so ganz klar trennen, Menschen lassen sich ja nicht auf eine Behinderung reduzieren. Depressionen oder andere Erkrankungen gibt es bei Menschen mit und ohne Körperbehinderung. Letztendlich geht es nicht um die Art der Behinderung, sondern um die Frage, ob man sich miteinander versteht und ob die Gemeinschaft in der Lage ist, die Unterstützung mitzutragen, die ein Mensch braucht.

Interview

Lorenz Geier ist Teil einer Gruppe von Menschen mit und ohne Behinde­­rungen, die in München ein Haus für gemein­schaft­liches Wohnen baut. Die Gruppe ist organisiert im Verein Gemein­wohl­wohnen e. V., der sich für ein selbst­bestimmtes und solida­risches Zusammen­leben aller Menschen einsetzt.

Die Menschen, die da zusammenkommen, werden ja ganz unterschiedliche Bedürfnisse mitbringen und auch verschiedene Anliegen haben. Wie wird das funktionieren?

Vor allem dadurch, dass wir miteinander reden und voneinander lernen. Uns alle verbindet, dass wir auf unterschiedliche Weise ausgeschlossen oder unterdrückt sind. Aber uns verbindet auch, dass wir alle unterschiedliche Privilegien, unsere Fähigkeiten und Stärken miteinander teilen. Unsere Idee ist, dass wir uns nicht nur an unseren Schwächen orientieren, sondern auch sagen: Welche Fähigkeiten und Stärken haben wir, wo können wir uns helfen? Natürlich brauchen wir auch Unterstützung von außen, in Form eines Pflegedienstes oder selbst angestellter Assistenzkräfte oder andere Formen, aber wir wollen immer auch gucken, was wir zusammen, als Gemeinschaft, hinkriegen.

Wie viele Leute machen da mit?

Momentan sind wir so acht, neun Leute, die sich hauptsächlich damit befassen, und dann kommen noch so 15 Personen dazu, die helfen. Wir haben einen Verein gegründet, das ist die Basis des Projektes. Und dann gibt es natürlich viele Leute, die drum herum noch Kleinigkeiten machen und punktuell unterstützen.

Wie finanziert sich der Hausbau?

Wir haben in den letzten zwei Jahren 1 750 000 Euro über Direktkredite, Spenden und Fördergelder eingesammelt. Der Großteil des Geldes kam von privaten Personen, die uns Geld geliehen haben, weil sie die Idee unterstützen möchten. Das ist eine unglaubliche Solidarität.

Was ist mit staatlicher Unterstützung?

Geld von Institutionen zu bekommen, Förderungen etwa oder Zuschüsse, ist sehr schwierig, weil wir zu inklusiv sind. Die entsprechenden Stellen können ihr Geld immer nur für einen Zweck rausgeben, also nur für behinderte oder nur für geflüchtete Menschen. Dass Marginalisierte sich zusammentun, hat die Förderlandschaft gar nicht auf dem Schirm.

Wie haben Sie bisher gewohnt?

Ich bin mit 18 ausgezogen, weil meine Eltern fanden, es wäre Zeit, dass ich selbstständig werde. Ich wollte damals eigentlich nicht raus, die mussten mich schon überreden, aber rückblickend war das eine gute Entscheidung. Meine erste WG war auch sehr schön, sehr familiär, die zweite war auch noch okay. Schwierig wurde es erst in so einer eher großen Wohngruppe. Jetzt wohne ich in einer Zweier-WG mit einem Kumpel zusammen, den ich in einer der Wohngruppen kennengelernt habe. Das ist jetzt auch eine ambulante Wohnform, mit einem Pflegedienst für den Notfall und Assistenzen je nach Bedarf.

Seit der Pandemie ist die Personalsituation in den Betreuungsberufen noch mal angespannter, kommt das bei Ihnen an?

Ja, das merkt man deutlich. In den letzten drei Jahren hat sich die Situation massiv verschlechtert. Und es war ja davor auch nicht toll. Früher waren hier, wo ich jetzt wohne, vier Pflegekräfte für acht Bewohner zuständig. Jetzt sind zwölf Bewohner in einer Gruppe, und oft sind wegen Krankheitsfällen nur zwei Pflegekräfte anwesend. Das führt zu viel Stress auf allen Seiten. Zum Beispiel wurde mir zuletzt ein Duschtermin abgesagt wegen Personalmangel. An einem anderen Tag habe ich meinen Termin verpasst, weil mir nicht zu der vereinbarten Uhrzeit aus dem Bett geholfen wurde. Das ist keine Selbstbestimmung.

War das ein Grund für das Projekt? Die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren?

Ja, das war ein konkreter Grund. Initiiert hat das Ganze ja Samuel, weil er eines Morgens in seinem Bett lag, und der Pfleger kam nicht. Und er kam einfach nicht aus dem Bett ohne Hilfe. Das ist natürlich eine Scheißsituation, dieses totale Ausgeliefertsein. Da hat er sich gedacht: Das kann doch nicht sein, dass ich hier so völlig hilflos bin. Und da hat er sich gedacht, dass es besser wäre, mit mehr Leuten zusammenzuwohnen, die sich gegenseitig helfen und unterstützen können. Darum geht es mir auch, wenn wir von Inklusion sprechen: dass die Leute, die Unterstützung brauchen, sie auch kriegen.

Ich höre immer wieder, dass Menschen mit Assistenzbedarfen lieber mit ungelernten Kräften arbeiten als mit Fachpersonal. Wie sehen Sie das?

Das ist schwer zu verallgemeinern, weil es tatsächlich sehr auf die individuelle Persönlichkeit ankommt. Was aber stimmt: Gelernte haben oft so komische Vorstellungen von irgendwelchen Regeln, von dem, was richtig ist und was falsch. Das haben sie halt so gelernt, und davon muss man sie dann erst mal umgewöhnen. Das kann schon anstrengend sein. Manchmal sehen sie halt nicht, dass ich am besten weiß, was ich will. Hinzu kommt, dass manchmal Menschen in dem Beruf landen, die für den Job einfach nicht geeignet oder sogar übergriffig sind. Hier im Pflegeteam haben wir einen Pfleger, der grob und unfreundlich ist. Ich habe mich zuletzt über ihn beschwert und gesagt, dass ich so nicht gepflegt werden will. Ich weiß, dass auch andere Bewohner sich beschwert haben. Trotzdem bleibt er Teil des Teams. Vielleicht wegen seiner unbefristeten Anstellung, wegen des Personalmangels oder auch der mangelnden Konfliktbereitschaft der Leitungsebene.

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Mal jenseits vom Projekt: Womit beschäftigen Sie sich sonst so?

Ich mache viel Kunst, Grafiken und so was. Ich habe von klein auf viel gezeichnet und gemalt. Ich kann nicht so gut sprechen und mich darüber nicht so verständlich machen, vor allem nicht in großen Gruppen. Dadurch ist die Kunst für mich eine Möglichkeit, gesehen zu werden; das ist schon auch ein Lebenssinn für mich.

Einige Ihrer Bilder erinnern mich ein bisschen an expressionistische Kunst, gerade Ihre Figuren; anderes ist fast schon kontemplativ und ganz innerlich. Haben Sie Vorbilder, sehen Sie sich da in irgendeiner Tradition?

Nein, Vorbilder brauche ich nicht. Damit beschäftige ich mich auch nicht so sehr. Das ist schon mehr Ausdruck meiner selbst als eine Auseinandersetzung mit anderen.

Was sind denn jenseits dieses Projektes in naher Zukunft Ziele für Sie?

Ich würde gerne eine selbst organisierte Reise machen, am liebsten nach Thailand, weil ich als Kind mit meiner Familie dort war und viele gute Erinnerungen daran habe. Und mittelfristig wäre ein inklusives Wohnprojekt auf dem Land schon etwas, das mich interessiert. Das Haus jetzt ist ja mitten in München, in Haidhausen, 200 Meter vom bayerischen Landtag entfernt. Aber es gibt ja auch Leute, die nicht so gern in der Stadt leben wollen oder auch nicht können. Das wäre schon ein Traum von mir, so ein Projekt auf einem Dorf hinzukriegen.

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