- Politik
- Deutsche Auswanderer
Paraguay: »Das gelobte Land«
Deutsche Familien wandern nach Paraguay aus – um sich dort neue Mauern zu bauen
Um zu seinem Haus zu kommen, braucht Hans Töpfer ein Floß. Der deutsche Informatiker hat sich im paraguayischen Hohenau sein eigenes kleines Paradies geschaffen: Etwas außerhalb des Ortskerns hat er mitten in einem Teich eine Insel aufgeschüttet und darauf eine kleine Holzhütte gebaut. »Hier kann ich mich entfalten«, erklärt er. Vor drei Jahren hat er Deutschland verlassen. Zu hohe Steuern und ein überregulierender Staat hätten ihn zu diesem Schritt gebracht.
Im Südosten Paraguays habe er nun alles gefunden, was er braucht. Ein gutes Klima, eine halbwegs funktionierende Infrastruktur – und eine lokale Gemeinschaft, die noch immer vom Geist der deutschen Siedler*innen geprägt ist, die die Region um das Jahr 1900 herum kolonisierten. Und Hans Töpfer ist nicht der Einzige, der in den vergangenen Jahren hier angekommen ist: Im Zuge der Covid-Pandemie ist Paraguay zu einem beliebten Ziel für europäische Auswander*innen geworden.
Gefangen in der Nostalgie
Eine von ihnen ist Natalie Klein, die nur wenige Straßen von Töpfers Teich entfernt in einem Café sitzt und ähnliche Geschichten erzählt. »Hier ist es wie früher in Deutschland«, sagt sie über Hohenau, das etwa 15 000 Einwohner hat. Gleich nebenan liegt Obligado, ein ungefähr gleich großes Schwesterstädtchen. Auf der Hauptstraße zwischen beiden Ortschaften laufen Schüler*innen in Uniform auf dem Heimweg vom Unterricht. Klein heißt eigentlich anders, aber sie möchte sich nicht unter ihrem richtigen Namen zitieren lassen. Im März ist sie zusammen mit ihrer Familie in Paraguay angekommen. Zu hohe Mietkosten und Steuern hätten einen zu großen Teil ihres Lohns verschlungen, sagt sie. In Deutschland habe ihr Lebensstandard nicht mehr ihren Erwartungen entsprochen.
Das war aber nicht der ausschlaggebende Grund: Um ihre Kinder habe sie sich Sorgen gemacht, sagt Klein. Der gesellschaftliche Wandel in Deutschland beunruhige sie – besonders die Stärkung queerer Rechte. Den endgültigen Entschluss, Deutschland zu verlassen, habe sie gefasst, als sie eine Werbung gesehen habe, in der sich zwei Männer küssten. »Wie soll ich das meinen Kindern erklären, obwohl ich damit nicht einverstanden bin?«, fragt sie und wirkt etwas verloren.
Dass sie mit ihren Sorgen nicht allein gewesen ist, zeigt sich unweit des Zentrums von Hohenau. Zwischen alten Fachwerkbauten entsteht eine Neubausiedlung, die den Trend zum Auswandern sichtbar macht. Frisch gemähter Rasen verströmt den Geruch kleinbürgerlicher Idylle. Während Angestellte Vorgärten und Zufahrtswege reinigen, sind Stimmen von Kindern zu hören, die auf Deutsch miteinander spielen.
»Esperanza« heißt dieses Viertel – »Hoffnung«. Es hat eine eigene Schule. Davor steht Alexander Haseborg, Lehrer und ehemaliger Berufssoldat, der die Schule gemeinsam mit anderen Hohenauer*innen gegründet hat. Bislang lernen hier ausschließlich deutschsprachige Kinder.
In Deutschland könne man sich nicht mehr frei äußern, findet Haseborg: »In der Schule konnte ich nicht sagen, dass ich der Überzeugung bin, dass es nur zwei Geschlechter gibt.« In Hohenau hingegen gebe es klare Rollenbilder – und täglichen Bibelunterricht. Man lebe gezielt getrennt von der westlichen Gesellschaft, um die Kinder vor schlechten Einflüssen zu schützen.
Offensichtlich besteht aber auch zu den Einheimischen wenig Kontakt. Nur die wenigsten der Zugewanderten sprechen halbwegs fließend Spanisch. Viele leben von ihrem Ersparten, handeln mit Kryptowährungen oder arbeiten weiterhin für europäische Unternehmen. »Die Löhne sind hier zu gering«, sagt Haseborg. »Von dem Geld, das ich meinem Gärtner zahle, könnte ich nicht leben.« Doch warum kommen trotz solcher Widersprüche immer mehr Deutsche nach Paraguay?
Die Antwort findet sich online, wo selbsternannte Expert*innen den Umzug ins gelobte Land bewerben. »Paraguay: Der einfachste Steuerwohnsitz der Welt?«, heißt es etwa auf dem Portal »Staatenlos«, wo für 2500 Euro eine Unterstützung vor Ort angeboten wird. Etwa wenn es um Behördengänge geht, oder um Tricks, um möglichst keine Steuern zahlen zu müssen. Eine andere Website wirbt mit Renditen von zehn bis zwölf Prozent auf Investitionen in Paraguay.
All das genießt im rechtskonservativ und wirtschaftsliberal regierten Paraguay viel politischen Rückhalt. Gemäß offiziellen Zahlen sind in den vergangenen 20 Jahren mehr als eine halbe Million Menschen aus Paraguay ausgewandert – mehrheitlich in Richtung Argentinien, USA und Spanien. Nun bewirbt die Regierung das Land als attraktives Einwanderungsziel für Wohlhabende.
Wie erfolgreich diese Strategie ist, wird in der Hauptstadt Asunción sichtbar. In der etwas heruntergekommenen Empfangshalle des Migrationsdienstes hört man Menschen auf Deutsch, Russisch oder auch Tschechisch miteinander sprechen. Ein paar Stockwerke weiter oben schaut Leila Olavarrieta, Mitglied des Behördendirektoriums, auf einen Spickzettel mit aktuellen Zahlen. »Seit 2018 haben sich 10 756 deutsche Staatsbürger in Paraguay angesiedelt.«
Migrant*innen würden Geld mitbringen und die Wirtschaft ankurbeln, erklärt die Beamtin. »Unser Präsident Santiago Peña sucht Menschen, die ihr Geld anlegen oder sich niederlassen und mit Arbeit das Land fördern möchten.« Deren Integration in der paraguayischen Gesellschaft blickt sie gelassen entgegen. Zwar gebe es geschlossene Communitys, in denen kaum Spanischkenntnisse vorhanden seien, »aber wir sind sicher, mit der Zeit werden sie sich integrieren«. Schließlich habe man dieselbe Erfahrung schon mit den Siedler*innen im 19. Jahrhundert gemacht.
Alles selber machen
Doch die Realität, in die sich die Deutschen integrieren sollen, hat ihre Schattenseiten. Obwohl Paraguay im lateinamerikanischen Vergleich niedrige Mord- und Straßenkriminalitätsraten aufweist, blüht im Land die organisierte Kriminalität. Für Journalist*innen ist es ein hartes Pflaster; seit 2005 wurden 19 Medienschaffende ermordet. US-Behörden schätzen, dass 30 Prozent von Paraguays Bruttoinlandsprodukt durch Geldwäsche generiert werden. Nicht nur europäische Freiheitsliebende sind hier willkommen, sondern auch Geld der islamistischen Hisbollah aus dem Libanon, wie die USA mehrfach kritisiert haben.
Den Grund für das tolerierte kriminelle Treiben ortet Wirtschaftswissenschaftler Fernando Masi, der einem unabhängigen Wirtschaftsinstitut in Asunción vorsitzt, in der politischen Geschichte des Landes. Während der Diktatur von Armeegeneral Alfredo Stroessner von 1954 bis 1989 hätten die Funktionär*innen der regierenden Colorado-Partei den Staat als Selbstbedienungsladen genutzt. »Militärs und Unternehmen erhielten völlige Freiheiten für wirtschaftliche Aktivitäten, ohne Regulierung oder Steuern.« Diese Auswirkungen seien bis heute zu bemerken. Wer die richtigen Beziehungen zur Regierung habe, könne ohne jegliche staatliche Kontrolle wirtschaften.
Erst in jüngster Zeit seien kleinere Reformen umgesetzt worden, sodass die Steuerlast heute offiziell bei etwa elf Prozent liege – ohne echte Progression bei steigenden Einkommen. »Folge der fehlenden Steuereinnahmen sind unzureichende Ausgaben für Soziales«, so Masi. Öffentliche Schulen und Krankenhäuser seien unterfinanziert.
Was das konkret bedeutet, erleben die Menschen in Hohenau täglich – etwa bei der freiwilligen Feuerwehr, die man sich mit der Schwesterstadt Obligado teilt. Sie wurde in den Achtzigerjahren von den Nachfahren deutscher Siedler*innen gegründet. Die Feuerwehrleute Egon Ziesmann, Roland Pohler und Emilio Wachholz sitzen in ihrem Büro und trinken gemeinsam Mate. Ihre überlebenswichtige Arbeit werde von offizieller Seite kaum unterstützt, bemängelt Schatzmeister Wachholz. »Etwa 40 Prozent unserer monatlichen Ausgaben zahlt der Staat«, erklärt er. »Der Rest kommt aus Mitgliederbeiträgen, solidarischen Aktivitäten und Spenden.«
Alle drei Feuerwehrmänner stammen aus deutschsprachigen Familien, die einst aus Armut Europa verlassen haben und über Brasilien nach Paraguay eingewandert sind. Wie viele andere lateinamerikanische Länder hat Paraguay einst freizügig Ländereien an europäische Einwanderer*innen vergeben, die zuvor von der nomadisch lebenden indigenen Bevölkerung genutzt worden waren.
Auch in Hohenau entwickelten sich auf diese Weise getrennte Gesellschaften. »Es herrschte Rassismus«, erklärt Pohler. Deutschsprachige seien unter sich geblieben und hätten auf die restliche Bevölkerung hinabgeschaut. Gemischte Ehen seien lange unvorstellbar gewesen. Die drei sind sich allerdings einig: Zum Glück habe man sich in den letzten 40 Jahren geöffnet.
Umso kritischer sehen sie deshalb, was sich mit den neuen deutschen Einwanderern zu wiederholen scheint: Wieder entstehen isolierte Gemeinschaften. Er verstehe deren Wunsch nach Freiheit und tiefen Steuersätzen, erläutert Pohler, »aber die Einwanderer müssten sich anpassen.« Sie lebten jetzt nicht mehr in Europa – und sollten sich hier stärker an den gemeinschaftlichen Aufgaben beteiligen, findet er.
Straßenpatrouillen und Betrügereien
Hans Töpfer auf seiner Insel hat eine andere Sicht auf die Integration. Auf seinem Holzhaus hat er eine Kamera montiert, mit der er seine Umgebung überwacht. Auch die neuen Deutschen haben mit der paraguayischen Realität zu kämpfen. »Ja, hier muss man auf die Sicherheit aufpassen«, betont Töpfer. Im Esperanza-Viertel wird derweil am Abend der Zugang gesperrt, und Alexander Haseborg erläutert: »Die Männer unseres Dorfes gehen nachts regelmäßig auf Streife.« Nachts scheint die lateinamerikanische Realität die europäischen Ausreißer*innen stärker zu beängstigen, als sie tagsüber zugeben mögen.
Die nächtlichen Patrouillen schützen die Auswanderer*innen aber nicht vor den Betrügereien durch ihre eigenen Landsleute. Es häufen sich Geschichten von überteuerten Autos und Häusern, die Neulingen bei der Ankunft angedreht werden. Von Investitionen, zu denen »Expert*innen« raten, die sich aber als Flops erweisen. »Man muss sehr aufpassen, dass man nicht übers Ohr gehauen wird«, sagt Töpfer, Paraguay sei eben nicht für alle geeignet. Besonders von jenen, die während der Pandemie hier angekommen seien, hätten so manche ihr Erspartes bereits aufgebraucht. Sie seien zurückgekehrt – nicht wenige wohl in die Arme der europäischen Sozialstaaten.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.