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Nächtlicher Beschuss der »Sumud Flotilla«
Die »Sumud Flotilla« will Israels Seeblockade durchbrechen und Hilfsgüter nach Gaza bringen. Zwischenfälle gibt es schon in Tunis
Eigentlich sollte es der Tag der großen Ausfahrt werden – in Richtung Gazastreifen. Dutzende Schiffe liegen am Sonntag abfahrbereit in dem kleinen Hafen von Sidi Bousaid. Neugierige auf der Uferpromenade versuchen, die auf Reede liegenden Boote zu zählen. Der idyllische Vorort der tunesischen Hauptstadt ist unter Menschenrechtsaktivisten erst seit wenigen Tagen bekannt.
Junge Menschen in ungewöhnlich legerer Kleidung schlendern durch die Gassen, neben ihnen Touristengruppen aus den All-inclusive-Hotels. Zwei Welten treffen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einen suchen Entspannung und ein wenig Luxus, die Schiffsbesatzungen aus 44 Ländern unterhalten sich dagegen konzentriert. Sie sind auf dem Weg in ein Kriegsgebiet, in dem das Leid unermesslich ist.
Berichte über Vertreibungen sowie mehr als 60 000 getötete Palästinenser erreichen täglich die Smartphones der Souvenir-Händler in Sidi Bousaid. Seitdem die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO von Jassir Arafat 1982 ihr Hauptquartier für mehrere Jahre ins tunesische Exil verlegt hatte, ist Palästina das außenpolitische Thema Nummer eins im Land. Die Anteilnahme am Geschehen in Nahost ist groß.
In Libyen und Ägypten gibt es durchaus kritische Kommentare über die Militanz der Hamas oder die Korruption der Palästinensischen Autonomiebehörde. Nicht so in Sidi Bousaid, wo jegliche Kritik als Einknicken gegenüber dem »kolonialen Projekt« der »zionistischen Entität« gilt, wie Israel hier genannt wird.
Die Händler blicken respektvoll auf die Aktivisten. Dass so viele Europäer unter ihnen sind, sorgt für Verwunderung. Ende August startete der Schiffskonvoi in Barcelona. Am Samstag ist er in Tunesien angekommen. Die durch die Seereise bereits braun gebrannten Besatzungen genießen wie die Touristen den Blick auf den Golf von Tunis. Dort liegt die »Global Sumud-Flotte« vor Anker. Es ist die mit Abstand größte Solidaritätsaktion, seit die Israelis vor 17 Jahren damit begannen, den Gazastreifen in alle Himmelsrichtungen hermetisch abzuriegeln.
Nicht nur die Besatzungen, sondern auch die Schiffe der »Flotilla« sind sehr unterschiedlich. Kleine, offene Fischerboote sind dabei, aber auch Segler und große hochseetaugliche Holzschiffe aus Barcelona, Catania oder Zarzis sollen die israelische Armee schon durch ihre Zahl durcheinanderbringen.
Da an einigen Schiffen noch technische Probleme behoben werden müssen, verschiebt sich die Abreise. Die Organisatoren verwandeln den Sonntag kurzerhand in einen Kennenlerntag mit der lokalen Bevölkerung.
»Ich weiß nicht, ob viele Neugierige an so einem schönen Tag vom Strand wegzulocken sind«, hatte Wael Naouar, einer der Organisatoren des »Global Sumud«-Konvois, noch am Vortag gezweifelt. Doch bereits am nächsten Morgen geht auf der Uferstraße nichts mehr. Kilometer lang stauen sich die Autos. Im Schritttempo winken Insassen mit palästinensischen Fahnen, rufen »Free Palestine!« oder genießen den Menschenauflauf – als willkommene Auszeit von der Wirtschaftskrise. Viele Familien in Tunesien haben schon ab der Monatsmitte große Geldsorgen. Zehntausende Schaulustige sind in die weiß-blaue Stadt am Meer gekommen und demonstrieren lautstark für die hungernden Bewohner von Gaza. Das arabische Wort »Sumud« steht für Standhaftigkeit und Ausdauer.
Auf einer kleinen Bühne steht Greta Thunberg, dicht umringt von anderen Organisatoren und Crewmitgliedern. Die schwedische Umweltaktivistin hält sich zurück. Doch zusammen mit dem Tunesier Wael Naouar verkörpert sie den Geist des Projektes. Beide agieren leise im Hintergrund. Sie scheinen so etwas wie die Motoren des Global-Sumud-Treffens in Tunis zu sein, auch wenn immer wieder andere Aktivisten vor den Kameras stehen.
Thunbergs Botschaft
Schon im Juni hatte Greta Thunberg zusammen mit einer erfahrenen Crew versucht, Gaza mit einer Jacht zu erreichen. Das Unternehmen endete in einem israelischen Gefängnis, der Abschiebung nach Frankreich aber auch viel medialer Aufmerksamkeit.
Wael Naouar hatte zusammen mit Freunden und der größten tunesischen Gewerkschaft UGGT im Frühjahr einen Fahrzeug-Konvoi organisiert, der den Grenzübergang Rafah in Ägypten erreichen sollte. Die Behörden in Ostlibyen stoppten den aus 150 Bussen und Fahrzeugen bestehenden Konvoi mit Teilnehmern aus ganz Nordafrika. Nach der Rückkehr des gescheiterten Versuchs brandete ihm in Tunis Respekt entgegen.
Seit zwei Jahren verfolgen die Tunesier zumeist auf ihren Mobiltelefonen die Gräueltaten der israelischen Armee an Zivilisten. Viele Menschen fühlen sich ohnmächtig. Dabei fürchten die Machthaber, dass Solidaritätsbekundungen auf den Straßen in soziale Bewegungen umschlagen könnten, wie vor 14 Jahren beim Arabischen Frühling. Aber noch wird der Sumud-Konvoi auch von den Behörden in Tunis gutgeheißen.
Am Sonntag steht Wael Naouar zusammen mit Greta Thunberg auf der Bühne. Mit ihrer schmächtigen Figur sieht die Schwedin neben den großgewachsenen und sturmerprobten Teilnehmern aus Spanien und Portugal wie eine Nebendarstellerin aus.
Bis sie das Mikrofon ergreift. Ihre Stimme übertönt ohne Anstrengung das Grundrauschen der Menschenmenge: »Die israelische Tötungsmaschinerie hungert die Menschen weiter aus, zum Zweck der ethnischen Säuberung«, behauptet Thunberg. »Globale Medien berichten über unser Sumud-Projekt, aber wo sind die globalen Medien, wenn es um den täglichen Horror in Gaza geht – wenn es darum geht, Kriegsverbrecher dingfest zu machen?«
Thunbergs Wut spiegelt sich in vielen Gesichtern in der Menge wider. Die Feierstimmung ist für einen Moment verflogen, vor allem die wenigen westlichen Medienvertreter in der Menge erhalten vorwurfsvolle oder fragende Blicke. »Auch die Regierungen und Firmen unserer Länder machen sich an dem Genozid mitschuldig. Werdet menschlich!«, ruft Thunberg und tritt ab. Die Rede der Klimaaktivistin macht deutlich: Diese Flotilla hat eben nicht nur eine rein humanitäre Mission. Sie ist auch ein politisches Statement gegen Israels Regierung sowie westliche Regierungen und Medien, denen die Organisatoren eine Mitschuld am Gaza-Krieg geben.
Kurz vor dem geplanten Ablegetermin eskaliert die Situation unerwartet: In der Nacht auf Dienstag wird ein ankerndes Boot der Flotte angegriffen. Der Friedensaktivist Miguel Duerte hielt Wache auf dem sogenannten »Familienschiff«, als er eine Drohne vier bis fünf Meter über sich entdeckte. »Zunächst hörte ich das laute Summen, dann sahen meine Kollegen und ich, wie sie zum Heck flog, kurz verharrte und eine Bombe abwarf«, berichtet der Portugiese auf einer am Dienstagmorgen spontan einberufenen Pressekonferenz vor dem Theatre Municipale im Herzen von Tunis. Dutzende Journalisten und Hunderte Pro-Palästina-Anhänger haben sich dort eingefunden.
Empörung in Tunis
Der Angriff sorgt binnen weniger Stunden für große Empörung in Tunesien. »Es gelang uns, das ausgebrochene Feuer schnell zu löschen«, sagt Duerte, der zur Zeit des Angriffs mit fünf Mitstreitern an Bord des unter portugiesischer Flagge fahrenden Schiffs war. Aufnahmen von fest installierten Überwachungskameras benachbarter Boote zeigen den Feuerschweif eines Geschosses und die von Duerte beschriebene Explosion.
Das Innenministerium in Tunis reagiert zunächst zurückhaltend. Man habe keine Drohne wahrgenommen, heißt es in einer Erklärung am frühen Morgen – vielleicht habe eine liegengelassene Zigarette den Brand ausgelöst. Wael Naouar fordert von der Nationalgarde eine weitergehende Untersuchung: »Im Hafen von Sidi Bousaid ist die Souveränität unseres Landes angegriffen worden«, suggeriert er, dass der Angriff aus dem Ausland gekommen sei. Das müsse restlos aufgeklärt werden.
Thiago Avila, einer der Initiatoren der Flotilla, bekräftigte unter dem Jubel der Menge vor dem Theater, dass man sich nicht vom Angriff auf das Führungsschiff der Flotte abschrecken lasse. Es sei schließlich nicht die erste Attacke auf Versuche, Gaza vom Meer aus zu unterstützen: »Dies ist das 38. Schiff, das während der 17-jährigen Blockade attackiert wurde. Nur weil es Teil einer humanitären, friedlichen Mission ist.«
In der Nacht auf Mittwoch erfolgt ein weiterer Angriff. Eine ägyptische Aktivistin sieht ein leuchtendes Objekt, das auf das Boot »Alma« fällt, das unter britischer Flagge fährt. Wieder gibt es keine Verletzten. Erneut kann das Feuer schnell gelöscht werden. Doch spätestens jetzt ist allen Teilnehmern klar, dass ihre Gegner auch auf hoher See bereit sein werden, den Sumud-Konvoi mit allen Mitteln zu stoppen.
Ob tatsächlich wie vermutet israelische Drohnen für die Feuer an Bord verantwortlich sind, wird wohl niemals geklärt werden. Auch weil sich die Behörden schnell gegen diese Version des Geschehens verwahrt haben. Aber eines ist sicher: Die Aktivisten haben spätestens jetzt die oftmals vermisste Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit.
Sie rechnen noch vor Ankunft in den Hoheitsgewässern des Gazastreifens damit, von Spezialkommandos angegriffen zu werden. Israels Sicherheitsminister Ben Gvir hatte bereits angekündigt, die Teilnehmer der Flotilla festnehmen zu lassen und wie Terroristen zu behandeln. »Das wäre illegal«, betonte ein Teilnehmer, »und wir werden dafür sorgen, dass dieses Verbrechen zumindest vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschieht.«
Trotz der Angriffe wollte die Flotille mit mehr als 60 Schiffen am Mittwoch in Richtung Gaza auslaufen.
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