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Unruhige Tage für Al-Scharaa
Syriens Präsident kommt mit vielen ungelösten Konflikten zur UN-Generalversammlung nach New York
Der aktuelle Besuch des syrischen Übergangspräsidenten Ahmed Al-Scharaa bei den Vereinten Nationen in New York ist ein Meilenstein. Es ist die erste Teilnahme eines syrischen Präsidenten seit 1967. Doch während er mit dem Besuch sein internationales Image aufpoliert und sich mit seinen ehemaligen Feinden der CIA zum öffentlichen Austausch trifft, kommt Syrien auch zehn Monate nach dem Ende des Regimes von Baschar Al-Assad nicht zur Ruhe. Eigentlich hätte in der vergangenen Woche, noch vor seinem Besuch in New York, die neue Zusammensetzung des syrischen Parlaments beendet sein sollen. Doch der Wahlprozess wurde trotz monatelangem Vorlauf kurzfristig um zwei Wochen verschoben. Grund für die Verschiebung ist laut Tarek Al-Kurdi, einem Mitglied des Wahlrates, der hohe Ansturm auf die Kandidatenplätze. Überprüfen lässt sich das nicht.
Der Prozess zur Neubesetzung des Parlaments stand in Syrien schon vor der Verschiebung in der Kritik. Denn direkte Wahlen durch die Bevölkerung selbst sollen nicht stattfinden. Zwei Drittel der 210 Sitze im Parlament sollen von lokalen Wahlkommissionen bestimmt werden, die zuvor vom Wahlrat eingesetzt werden, der direkt von der Übergangsregierung gebildet wurde. Das letzte Drittel soll direkt von Al-Scharaa ausgewählt werden. Wen er für diese Sitze auswählt, dürfte ausschlaggebend werden, da er damit quasi eine Sperrminorität einsetzen könnte. Denn seine präsidentiellen Dekrete könnten in Zukunft vom Parlament überstimmt werden – aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit.
Die kurdisch geprägte Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, aber auch Teile der alawitischen Minderheit im Westen des Landes lehnen die Wahl schon im Vorhinein ab. Khaled Davrisch, Vertreter der Selbstverwaltung in Deutschland, erklärte: »Diese Wahlen sind nicht demokratisch. Die Volksversammlung wird nicht den Willen des syrischen Volkes widerspiegeln.« Ähnlich äußerte sich auch der alawitische Islamische Rat. Man lehne den so entstehenden Volksrat ab, da er keinerlei Legitimität besäße und nur diejenigen repräsentiere, die ihn eingesetzt haben.
Nicht nur die direkte oder indirekte Auswahl der Abgeordneten durch die Übergangsregierung verzerrt die Repräsentation in einem künftigen Parlament. Schon im August hatte die Regierung erklärt, die Wahl werde in den Regionen Suweida, Raqqa und Heseke bis auf Weiteres ausgesetzt. Neben der Region, in der es im Juli heftige Kämpfe zwischen der Regierung, arabischen Stämmen und der drusischen Minderheit sowie Gräueltaten an dieser gegeben hatte, ist also auch ein Großteil der Gebiete der Selbstverwaltung vom Parlament in Zukunft ausgeschlossen. Als Grund dafür gibt die Regierung die Sicherheitslage an. Dieses Argument scheint gerade in den Regionen Raqqa und Heseke vorgeschoben zu sein. Nicht nur gelten die Regionen schon seit der Zeit vor dem Sturz von Assad als die mitunter sichersten in ganz Syrien, noch hat es in den Regionen seitdem größere Kämpfe gegeben. Hauptsächlich sorgen die wiederholten Angriffe der Türkei regelmäßig für Unsicherheit.
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Die Regierung in Damaskus sieht in der Selbstverwaltung ihren größten internen Rivalen. Trotz des Abkommens zwischen der Übergangsregierung und der Selbstverwaltung im März hat sich das Tauziehen um die Zukunft Syriens zwischen diesen beiden Polen nur allmählich bewegt. Die Frage des zukünftigen politischen Systems des Landes bleibt damit weiter unbeantwortet. Während Damaskus auf einem zentralisierten System beharrt und Al-Scharaa sich dabei zuletzt sogar auf Gesetze der Assad-Regierung berief, fordert die Selbstverwaltung weiter eine Dezentralisierung, die den Minderheiten im Land eine gewisse Form der Selbstverwaltung garantiert. Auch vor dem Hintergrund dieser offenen Frage war der Ausgang der Kämpfe in Suweida, als sich die Kräfte der Regierung zurückziehen mussten, eine bittere Pille für Al-Scharaa. Das Gebiet steht jetzt de facto unter der Kontrolle drusischer Milizen, die israelischen Schutz genießen.
Al-Scharaas Besuch in New York wird von neuerlichem Beschuss zwischen seiner Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) und der syrischen Armee (SNA) auf der einen und den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) auf der anderen Seite überschattet. Die Kämpfe im Norden Syriens im Gebiet des nach Jahresanfang für Monate umkämpften Tişrîn-Staudamms dürften ihn beunruhigen. Nach Angaben der SDF wurden dabei in der Nacht auf Sonntag mindestens sieben Zivilist*innen getötet.
Eine militärische Eskalation entlang dieser Front könnte Syrien erneut ins Chaos stürzen und damit auch Al-Scharaas Position gefährden. Zumal eine solche Eskalation ohne Zweifel erneut das Eingreifen regionaler Mächte, namentlich der Türkei und Israels, zur Folge hätte. Türkische Offizielle drohen trotz Friedensprozess mit der kurdischen PKK selbst mit einem Eingreifen in Syrien, sollte das Abkommen vom März nicht umgesetzt werden. Israel macht seit Monaten zugleich klar, keine weitere Expansion der Türkei in Syrien zuzulassen. Einzig und allein die USA scheinen unentschlossen. Dass aber auch sie nicht mit einer schnellen Lösung rechnen, machte der US-Sondergesandte für Syrien Tom Barrack in einem Interview mit »The National« klar. Frieden im Mittleren Osten sei eine Illusion, da sich niemand dem anderen unterordnen wolle.
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