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Street College Berlin: Selbstbestimmt zum Schulabschluss
Am Street College stellen sich junge Menschen ihr Lernprogramm eigenverantwortlich zusammen
Kretze, Theo und Caro sind um die 20 Jahre alt. Sie besuchen den Vorbereitungskurs für ihren Schulabschluss im »Street College«, einem Bildungsprojekt des Vereins Gangway, das 2013 auf den konkreten Wunsch von Jugendlichen hin in Berlin ins Leben gerufen wurde. Die Drei lernen am Standort Graefestraße in Kreuzberg und schätzen besonders die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wann sie kommen und wie sie lernen.
»Was ich hier besonders gut finde, ist, dass ich mir genau die Informationen holen kann, die ich brauche«, erzählt Kretze. Kretze fand sich im klassischen Bildungssystem nicht gut aufgehoben und fühlt sich durch das Street College nun motiviert, den Mittleren Schulabschluss (MSA) zu absolvieren. Nebenbei macht Kretze Kurse in Musik und Kunst. Theo schätzt, dass es keine klassischen Lehrenden gibt und »man einfach wie normale Menschen auf Augenhöhe miteinander redet«. Caro gefällt, dass sie sich ihre Zeiten flexibel einteilen kann und dass »das einfach besser zu ihrem Leben passt«. Sobald sie den MSA-Vorbereitungskurs abgeschlossen haben, melden sie sich für die »Prüfung für Nichtschülerinnen und Nichtschüler« zum Erwerb ihres Schulabschlusses an. Mit der Prüfung können die Berufsbildungsreife, die erweiterte Berufsbildungsreife und der Mittlere Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt werden.
Das Street College bietet an drei Standorten in ganz Berlin sowie digital Kurse in Musik, Film, Kunst, Mode sowie in der Vorbereitung auf Schulabschlüsse an. Das Projekt passt sich dabei den Bedürfnissen der Lernenden an. Diese sind junge Menschen zwischen 16 und 27 Jahren, die nach Alternativen zum klassischen Bildungsweg suchen. Was das Street College von anderen Bildungsprojekten in Berlin unterscheidet, ist die Möglichkeit für Schüler*innen, eigene Kurse zu initiieren und die Lehrpläne eigenverantwortlich zu gestalten. Dabei werden diese von Sozialarbeiter*innen und Dozierenden unterstützt, die die Kurse fachlich anleiten und begleiten.
»Es ist wichtig, dass die Jugendlichen ihre persönlichen Stärken entfalten können, ohne dabei unter Druck zu geraten.«
Anne Sozialarbeiterin am Street College
»Bestehende Strukturen müssen hinterfragt werden, um sie zu verändern«, sagt Anne, Sozialarbeiterin am Street College. Die Mitarbeiter*innen setzen auf Beziehungsarbeit. Viele Jugendliche kommen, um Abschlüsse nachzuholen, sich weiterzubilden oder kreative Kurse zu belegen. »Neben den Kursen gibt es zahlreiche Projekte wie einen Podcast«, erzählt Steffi, zuständig für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Auch eine Wahlwoche mit Politik-Talks und gemeinsamen Gesprächsrunden zum Anlass der Bundestagswahlen habe man organisiert.
Das Bildungsprojekt steht allerdings auf wackeligen Füßen. Die Finanzierung ist zeitlich befristet und projektbezogen. Angesichts der aktuellen Kürzungen im Haushalt der Bildungsverwaltung musste das Street College bis vor Kurzem erneut um seine Zukunft bangen. Wegen des Haushaltsplans 2024/25 drohte die Finanzierung wegzubrechen. Mittlerweile will der Senat Einsparungen verschieben und stabilisiert somit – vorerst – die Arbeit des Bildungsprojekts.
»Die begrenzten Mittel erschweren die Umsetzung und Nachhaltigkeit des Bildungsprojekts«, erklärt Anne. »Es ist wichtig, dass die Jugendlichen ihre persönlichen Stärken entfalten können, ohne dabei unter Druck zu geraten. Doch das erfordert Zeit und vor allem finanzielle Sicherheit.« Dem Team von Anne, drei weiteren Sozialarbeiter*innen und einer Psychologin, geht es um zwischenmenschliche Arbeit, die jenseits von Verwertungslogik stattfindet. Finanzielle Stabilität, politische Anerkennung und Unterstützung würden helfen. Die Angestellten verdienen in freier Trägerschaft außerdem unterschiedlich. Anne berichtet, sie stoße innerhalb des Projekts auch an persönliche Grenzen. Trotzdem mag sie ihre Arbeit. »Es ist wunderbar, aber auch herausfordernd, da wir bedarfsorientiert arbeiten. Es bleibt nichts, wie es ist. Das Konzept passt sich an, wir arbeiten sehr flexibel und am einzelnen Menschen orientiert.«
In die Graefestraße kommen mittlerweile Jugendliche aus dem gesamten Stadtgebiet. Sie haben eine feste Struktur für sich erarbeitet, die sie im Alltag brauchen und schätzen. Steffi lässt sich nicht entmutigen. »Das wichtigste Ziel ist es, die Idee des Street College weiterzugeben.« Das Street College ist vor allem eine Haltung, die von allen Mitwirkenden getragen wird. Der Verlust dieses Ortes wäre nicht nur das Ende eines Bildungsprojekts. Es würde ein Raum verloren gehen, in dem junge Menschen selbständig werden und sich persönlich entwickeln können.
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