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UN-Untersuchung: Nicht nur eine symbolische Entscheidung
Die Untersuchung der Vereinten Nationen zum Genozid im Gazastreifen hat Folgen
Mit dem am 16. September 2025 veröffentlichten Bericht kommt die unabhängige Untersuchungskommission, die vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzt wurde, zu dem Schluss, dass die israelischen Behörden in Gaza einen Genozid verüben. Laut der Kommission beinhalten die aktuellen Verstöße vier der fünf Handlungen, die in der Genozid-Definition der UN-Konvention von 1948 festgelegt sind. Diese Verbrechen wurden mit der Absicht begangen, eine bestimmte nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören: (I) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, (II) schwere Schädigung ihrer körperlichen oder geistigen Integrität, (III) das Aussetzen von Lebensbedingungen, die ihre physische Zerstörung bewirken sollen, und (IV) Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe.
Die Kommission betont, dass die tatsächlichen Ziele der militärischen Aggression gegen den Gazastreifen darin bestehen, »so viele Palästinenser wie möglich zu töten« und Gaza zu einem unbewohnbaren Ort für die Überlebenden zu machen. Diese Schlussfolgerungen stimmen mit denen zahlreicher Berichte von staatlichen und nicht staatlichen Organisationen überein, darunter auch einige israelische Organisationen. Die Kommission stellt außerdem fest, dass Premierminister Benjamin Netanjahu, Präsident Herzog und andere Minister wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir für die direkte und öffentliche Anstiftung zu Genozidverbrechen verantwortlich sind.
In ihren Schlussfolgerungen erinnert die Kommission nicht nur Israel an seine Verpflichtungen, sondern auch die Drittstaaten, die eine strenge Pflicht zur Verhinderung von Genoziden haben. Die Kommission erklärt eindeutig, dass seit dem 26. Januar 2024, als der Internationale Gerichtshof (IGH) auf Antrag Südafrikas erste vorläufige Maßnahmen ergriffen hat, alle Staaten über das ernste Risiko eines Genozids informiert sind. Damit haben sie seit mehr als anderthalb Jahren die Pflicht, alle verfügbaren Mittel zur Verhinderung eines Genozids einzusetzen. Die Kommission fordert daher alle Staaten auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen und ihre Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.
Die Kommission gibt den Staaten auch sehr präzise Hinweise zur Verantwortungsermittlung und zur Unterstützung der internationalen Justiz. Sie empfiehlt den Staaten, sich als Dritte an dem Verfahren zu beteiligen, das Südafrika gegen Israel wegen der Verletzung der Genozid-Konvention vor dem IGH eingeleitet hat. Das Verbot von Genozid ist eine zwingende Norm des internationalen Rechts, deren Verletzung nicht nur die Palästinenser, sondern jedes Mitglied der internationalen Gemeinschaft betrifft. Alle Staaten werden aufgefordert, ihre Stimme vor dem IGH zu erheben. Die Kommission fordert außerdem, dass die Staaten die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und dessen Anklagebehörde voll unterstützen, um die Verantwortlichkeiten auch auf strafrechtlicher Ebene zu klären.
Die linke Medienlandschaft in Europa ist nicht groß, aber es gibt sie: ob nun die französische »L’Humanité« oder die schweizerische »Wochenzeitung« (WOZ), ob »Il Manifesto« aus Italien, die luxemburgische »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek«, die finnische »Kansan Uutiset«, der britische »Morning Star« oder »Naše Pravda« aus Prag. Sie alle beleuchten internationale und nationale Entwicklungen aus einer progressiven Sicht. Mit einer Reihe dieser Medien arbeitet »nd« bereits seit Längerem zusammen – inhaltlich zum Beispiel bei unserem internationalen Jahresrückblick oder der Übernahme von Reportagen und Interviews, technisch bei der Entwicklung unserer Digital-App.
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Die Berichte der UN-Untersuchungskommissionen haben formal keine bindende Wirkung auf den IStGH, üben aber erheblichen Einfluss auf internationale Gerichte aus. Die Kommissionen agieren wie »gerichtliche Organe«, sammeln Zeugenaussagen, beschaffen Beweise und bewerten diese nach strengen, systematischen und detaillierten Standards.
Es ist kein Zufall, dass die derzeitige Kommission von einer ehemaligen Richterin des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda geleitet wird. In dieser Funktion war sie mit dem Genozid in Ruanda befasst und erlangte eine beispiellose juristische Expertise in einem der »schwersten internationalen Verbrechen«.
Die Autorität der Kommission wird durch frühere Präzedenzfälle belegt. In der Vergangenheit haben die Berichte der Kommissionen einen entscheidenden Bezugspunkt für den Gerichtshof gebildet. Ein Beispiel ist der Bericht der Darfur-Kommission von 2005, die unter Vorsitz von Antonio Cassese stand. Dieser Bericht ebnete den Weg für die erste Überweisung eines vom UN-Sicherheitsrat behandelten Falles an den IStGH und trug zur Identifizierung der mutmaßlichen Verantwortlichen für internationale Verbrechen in der Region bei.
Als der IStGH dann den Haftbefehl gegen den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar Al-Baschir erließ, wurde der Darfur-Bericht ausführlich herangezogen. Ähnliches geschah in Bezug auf die Elfenbeinküste, wo die Anklagebehörde ihre Ermittlungen gegen den ehemaligen Präsidenten Laurent Gbagbo zu großen Teilen auf den Bericht der UN-Untersuchungskommission stützte.
Diese Präzedenzfälle zeigen, wie Berichte der Kommissionen, obwohl sie formal nicht bindend sind, für den IStGH als indirekte Beweise dienen können. Diese können oft als ausreichend angesehen werden, um Ermittlungen zu eröffnen und sogar Haftbefehle gegen Verdächtige von internationalen Verbrechen zu erlassen. Auch der aktuelle Bericht könnte der Anklagebehörde des IStGH neue Anhaltspunkte liefern, um den Umfang der Ermittlungen auszuweiten und die Anklagepunkte gegen Netanjahu sowie den ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant zu erweitern, indem der Vorwurf des Genozids aufgenommen und die Liste der Verdächtigen ausgeweitet wird.
Der Aufruf zur Zusammenarbeit der Staaten mit dem IStGH erhält in dieser Phase besonderes Gewicht, da die USA harte Sanktionen gegen drei Staatsanwälte und Richter des Gerichts verhängt haben. Auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese sowie die drei führenden palästinensischen Menschenrechtsorganisationen (Al-Haq, Al-Mezan und PCHR) sind betroffen, was schwerwiegende Folgen für alle hat, die mit dem Gerichtshof interagieren, und einen lähmenden Effekt auf dessen Arbeit ausübt. Daher ist es dringend notwendig, dass die Staaten auf den Appell reagieren, indem sie konkrete Maßnahmen ergreifen, um diese illegitimen Sanktionen im Einklang mit dem internationalen Recht zu bekämpfen und die ordnungsgemäße Funktionsweise der internationalen Strafjustiz dort zu gewährleisten, wo sie heute am dringendsten erforderlich ist.
Besonders in einer Zeit, in der der Druck der USA auf den IStGH zugenommen hat, wird der Appell der Kommission an die Staaten, die Arbeit des Gerichtshofs zu unterstützen, umso dringlicher. Es liegt nun an den Staaten, mit konkreten Maßnahmen diesen Angriff auf die internationale Strafverfolgung zu bekämpfen und sicherzustellen, dass Gerechtigkeit auch dort geübt wird, wo sie heute am nötigsten ist.
Dieser Text ist am 17. September in unserem italienischen Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
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