Proteste gegen Manöver in Hamburg: Gegen die innere Zeitenwende

Die Nato-Übung »Red Storm Bravo« war ein Test für die Mobilmachung der Zivilgesellschaft

  • Maarten van Melis
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Manöver »Red Storm Bravo« waren neben Soldaten auch Feuerwehrleute, Sanitäter und Hafenmitarbeiter beteiligt. Geübt werden sollte unter anderem ein »Massenanfall von Verwundeten«.
Am Manöver »Red Storm Bravo« waren neben Soldaten auch Feuerwehrleute, Sanitäter und Hafenmitarbeiter beteiligt. Geübt werden sollte unter anderem ein »Massenanfall von Verwundeten«.

Was durch Olaf Scholz am 27. Februar 2022 als »Zeitenwende« im Bundestag angekündigt wurde, ist im Hamburger Straßenbild zur militärischen Realität geworden. Am Wochenende absolvierte die Bundeswehr die Nato-Übung »Red Storm Bravo« – der rote Sturm aus dem Osten, der unsere Sicherheit bedroht. Anhand eines fiktiven Krisenszenarios wurde eine militärische Auseinandersetzung mit Russland trainiert.

Das Szenario sah vor, dass in einem Nato-Bündnisfall, der aufgrund eskalierender Spannungen an den Grenzen der baltischen Staaten ausgerufen wird, Deutschland zur Drehscheibe für militärische und zivile Transporte an die Ostgrenze des Nato-Gebiets wird. Hamburg kommt aufgrund des Hafens eine besondere Bedeutung zu. Das Hafengebiet stand folglich im Zentrum der Übungen, jedoch wurden auch angrenzende Gebiete und Verkehrswege einbezogen. Zu den geprobten Szenarien gehörten beispielsweise eine reibungslose Truppenverlegung sowie das Zurschaustellen der deutschen Fähigkeiten bei der Drohnenabwehr, die eine zunehmend zentrale Rolle in Kriegen einnimmt. Kurt Leonard, Kommandeur des Landeskommandos der Bundeswehr, forderte in diesem Kontext einen Ausbau der deutschen Drohnenfähigkeiten.

Die Bundeswehr betonte vorweg, dass Verteidigung nicht als eine rein militärische, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Schlussfolgernd nahmen auch zivile Blaulichtorganisationen, Hamburger Behörden, Unternehmen der Hafen- und Logistikbranche und sogar die Arbeitsagentur an der Militärübung teil. Das postulierte Ziel war die Verbesserung der zivil-militärischen Zusammenarbeit.

Konkret bedeutet dies, dass neben militärischen Übungen auch soziale Fragen der Logik der Zeitenwende untergeordnet werden. Beispielsweise wurde die Umsetzung des Arbeitssicherstellungsgesetzes trainiert, das im Verteidigungsfall den Bedarf an Arbeitskräften für lebens- und verteidigungswichtige Aufgaben decken soll. Das Gesetz wurde 1968 im Rahmen der Notstandsgesetze beschlossen, bislang jedoch nie angewendet. Für Arbeitnehmer*innen würde eine Umsetzung bedeuten, dass Grundrechte massiv eingeschränkt werden. Und auch der Umgang mit »zivilen Protesten« stand auf dem Lehrplan.

Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) sprach im Vorfeld davon, dass die Übung zwar nicht groß, aber dennoch in der Stadt spürbar sein werde. Er appellierte an die Hamburger*innen, sich damit zu beschäftigen, was im Kriegsfall zu tun sei: »Jeder muss sich vorbereiten.« Aber was bedeutet das konkret? Grotes Aussage verweist ungefiltert darauf, dass das Projekt der Zeitenwende nicht auf eine außenpolitische Militarisierung begrenzt ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Kriegstüchtigkeit zum Ziel hat.

Die außenpolitische Aufrüstung geht Hand in Hand mit einer inneren Zeitenwende und treibt den Abbau von sozialer Sicherheit und demokratischen Grundrechten voran. Austeritätspolitik, also staatliche Sparpolitik, und Militarisierung hängen systemisch zusammen. Ausdruck findet dies ganz offensichtlich in der Aussage von Friedrich Merz: »Wir können uns dieses System nicht mehr leisten« – während parallel eine Erhöhung der Militärausgaben aller Nato-Mitgliedsstaaten auf fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes sowie die Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben beschlossen wird.

Aber auch die in Hamburg erprobte Niederhaltung zivilen Widerstands ist Ausdruck dieser Entwicklung. Zu spüren bekommen dies bereits all jene, die sich gegen militärische Aufrüstung, Deutschlands Beteiligung am Genozid in Gaza und außenpolitische Doppelmoral zur Wehr setzen. Ende August zeigte sich dies etwa in Köln: Bei einer Anti-Kriegs-Demo des Rheinmetall-Entwaffnen-Bündnisses setzte die Polizei Demonstrierende über mehrere Stunden fest und ging mit extremer körperlicher Gewalt gegen sie vor. Zuvor wurde vergeblich versucht, das antimilitaristische Protestcamp der Gruppe zu verbieten. Die Botschaft war eindeutig: Der Protest trifft den Staat empfindlich und wird gerade deswegen mit allen Mitteln bekämpft.

Eine Regierung, die massiv aufrüstet und gleichzeitig Einsparungen bei jenen fordert, die bereits wenig haben, tut vor allem eines: Den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gemeinschaft, die angeblich vor Putin verteidigt werden sollen, selber zu zerstören und somit den Aufstieg autoritärer Kräfte zu forcieren. Politiker*innen, die sich als Apologeten der Freiheit, der Demokratie und des Völkerrechts inszenieren, scheinen auf einmal all ihre Grundsätze, die sie nach außen betonen, im Inneren vergessen zu haben.

Beginnen die Ängste der Gesellschaft wirklich an der Nato-Ostflanke oder vielmehr bei der entschiedenen Beschränkung demokratischer Rechte und der Austeritätspolitik, die den Alltag erschwert und Investitionen in Bildung und Soziales verhindert?

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