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Erste Anlaufstelle bei einer Depression
Hausärzte sind fast unverzichtbar, damit Menschen mit einer Depression nicht allein bleiben
Die Tage werden kürzer, mancher schiebt den Herbstblues. Hinter einem anhaltenden Stimmungstief kann sich unter Umständen eine schwere psychische Erkrankung verbergen, eine Depression. Laut Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO von 2007 steht die Depression bei der Zahl der beeinträchtigten Lebensjahre im Ranking aller Krankheiten sogar ganz vorn. Unter den psychischen Leiden verursachen Depressionen die meisten Fehltage, darunter bei Frauen noch einmal etwa ein Drittel mehr als bei Männern. Kommt es aus Gesundheitsgründen zu einer Frühverrentung, ist fast jede zweite psychisch bedingt – am häufigsten aufgrund der Diagnose Depression.
Wenn sich Erkrankte an ihrem Arbeitsplatz durch Phasen einer Depression schleppen, sind sie nicht so produktiv wie in gesundem Zustand. Erhöhte Fehlerquoten, geringeres Durchhaltevermögen und Vergesslichkeit sind dann oft Resultat der körperlichen Beschwerden einer Depression – dazu zählen Schlafstörungen und Energiemangel.
Unter den psychischen Leiden verursachen Depressionen die meisten Fehltage.
Der hier nur grob skizzierten Krankheitslast (auch in jedem Einzelfall, in jeder Familie) steht aber ein Defizit in der Versorgung gegenüber: Nach Angaben der Psychiatriegesellschaft DGPPN bekommt nur ein Viertel der an einer schweren Depression Erkrankten eine leitliniengerechte Behandlung – also eine auf aktuellem wissenschaftlichen Stand. Eine Psychotherapie zulasten einer gesetzlichen Krankenkasse erhalten nur zehn Prozent der Bedürftigen.
Angesichts dieser Gesamtsituation wird mit dem Europäischen Depressionstag an diesem Sonntag zum 22. Mal Aufmerksamkeit für die Erkrankung eingefordert. »Unser Ziel ist mehr Aufklärung und Früherkennung, sind mehr Behandlungs- und Handlungsmöglichkeiten«, erklärte Detlef E. Dietrich, Vertreter der European Depression Association (EDA) in Deutschland, bei einer Pressekonferenz vorab. Der Psychiater ist aktuell ärztlicher Direktor am Ameos-Klinikum Hildesheim.
Der diesjährige Aktionstag unter dem Motto »Depression in einer rastlosen Welt« hebt darauf ab, dass sich in den letzten Jahren Belastungen ständig erhöht haben. »Gesundheit entwickelt sich nie nur aufgrund einer persönlichen Disposition, sondern immer im Kontext der Lebensrealität«, sagt die Grünen-Politikerin und Psychiaterin Kirsten Kappert-Gonther. Und die wird für viele Menschen nicht besser: steigende Lebenshaltungskosten und Mieten, Trumps Politik, Krieg, Naturkatastrophen, womit nur einige Themen gestreift sind. Schon jede dritte Person in Deutschland fühle sich seelisch stark belastet, so die Bundestagsabgeordnete, auch wenn von diesen noch nicht alle einen Hilfebedarf hätten.
Wenn die Versorgung etwa durch Psychiater, Psychotherapeuten, Ambulanzen an Kliniken oder deren stationäre Fachabteilungen aber in der Fläche nicht lückenlos und jederzeit möglich ist, könnten dann die Hausärzte in diese Bresche springen? Unbedingt, dafür spricht sich Ilka Aden aus, aber Lückenfüller sind sie nicht. Die Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin ist in einer Braunschweiger Gemeinschaftspraxis tätig. Hausärzte sind flächendeckend und wohnortnah verfügbar, so Aden, und mehr noch: In der Regel kennen sie viele Betroffene schon aus ihrer Praxis.
»Wir sehen die Komorbiditäten: Fast die Hälfte der somatisch chronisch Kranken hat zusätzlich eine Depression«, sagt die Ärztin. »In die Praxis kommen Patienten zunächst häufig wegen Schmerzen, Schlafstörungen und Erschöpfung. Auch durch den engen Kontakt des ganzen Teams, vor allem der Fachangestellten am Tresen, und auch über lange Zeiträume, lassen sich die Beschwerden früh im psychosozialen Kontext einordnen – oft, bevor die Betroffenen sich selbst als depressiv wahrnehmen.« Zu den Alarmsignalen gehören häufige Arztbesuche ohne klare körperliche Ursache.
Behandeln Allgemeinmediziner Depressionen selbst – oder müssen sie die Patienten an Fachärzte überweisen? Die Hausärzte haben hier durchaus Möglichkeiten. Noch bevor Psychopharmaka verschrieben werden oder gar ein Facharzt gefunden werden muss, sind sogenannte Gesprächsinterventionen angeraten. Ohnehin sind Gespräche in die DNA der hausärztlichen Behandlung eingeschrieben. Im Fall leichter depressiver Episoden empfiehlt eine medizinische Leitlinie anfangs psychosoziale Maßnahmen, Aufklärung und die berühmte »aktiv-abwartende Begleitung«. Letztere bewahrt vor Überversorgung und setzt auf die vorhandenen Ressourcen und Kräfte von Betroffenen, ohne diese selbst aus dem Blick zu verlieren.
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In der Hausarztpraxis kann auch mit einer medikamentösen Behandlung begonnen werden, ebenso kann eine Psychotherapie per zugelassener App verordnet werden. Für Patienten allemal besser, als teils monatelang auf einen Facharzttermin warten zu müssen. Einen großen Haken hat die Sache dennoch: Das ist die unzureichende Vergütung der »sprechenden Medizin«, auf die auch Aden mehrfach hinweist.
Arbeitet nun der Hausarzt in einer großen Gemeinschaftspraxis oder in einem medizinischen Versorgungszentrum, kann die Versorgung im Fall einer beginnenden Depression anonymer werden, räumt Aden ein. Mediziner sind sich einig, dass die Hemmschwelle der Patienten gegenüber einem bekannten Arzt niedriger ist als bei einem Psychiater oder Psychologen. Also entscheidet sich schon in der Hausarztpraxis, ob Menschen mit ihrer Depression allein bleiben und in der Folge nicht ins Versorgungssystem finden – oder ob sie hier einen professionellen Ansprechpartner finden.
De facto ist die psychosomatische Grundversorgung schon seit 2005 fester Bestandteil der fachärztlichen Weiterbildung in der Allgemeinmedizin. Abrechenbar sind unter anderem ein Erstgespräch und auch »verbale Interventionen bei psychosomatischen Krankheitszuständen«. Damit sind die Bedingungen erfüllt, unter denen ein Hausarzt die Behandlung einer Depression zumindest in Gang setzen kann.
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