Medizinhoffung und Finanzfrust

Ein neuer Wirkstoff, der die Aids-Prophylaxe verbessert, steht 2027 als Generikum zur Verfügung

Protestkundgebung am Rande der Welt-Aids-Konferenz 2024 für preiswerte Abgabe von Lenacapavir in Ländern des globalen Südens
Protestkundgebung am Rande der Welt-Aids-Konferenz 2024 für preiswerte Abgabe von Lenacapavir in Ländern des globalen Südens

Eine hochwirksame Aids-Prophylaxe zum Preis von 40 US-Dollar im Jahr – das soll in absehbarer Zeit millionenfach möglich werden. Die indischen Pharmahersteller Dr. Reddy’s Laboratories und Hetero Labs haben vor wenigen Tagen bekanntgegeben, dass sie zu diesem Preis ab 2027 generische Versionen des Wirkstoffs Lenacapavir anbieten können. Dabei handelt es sich um eine halbjährlich zu verabreichende Injektion, die sich in umfangreichen Studien als nahezu 100-prozentig wirksam beim Schutz vor HIV erwiesen hat – eine solche Quote kommt bei Medikamententests äußerst selten vor.

Die Immunschwächekrankheit Aids ist eine der am längsten anhaltenden und verheerendsten Epidemien weltweit. Nach offiziellen UN-Angaben lebten im vergangenen Jahr 40,8 Millionen Menschen weltweit mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV). 1,3 Millionen neu Infizierte kamen allein 2024 hinzu, bei einer unbekannten Dunkelziffer. Seit dem Beginn der Epidemie in den 1980er Jahren starben 44,1 Millionen Menschen an Folgeerkrankungen. Im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 630 000 – und das trotz deutlich verbesserter Behandlungschancen: 31,6 Millionen Menschen hatten zuletzt Zugang zu einer antiretroviralen Therapie.

Die Vereinten Nationen gaben 2016 das Ziel aus, die Zahl der Neuinfektionen bis 2030 um 90 Prozent zu reduzieren. Davon ist die Welt weit entfernt. Zudem wird die Krankheit häufig spät diagnostiziert, und wegen des Ausstiegs des Hauptzahlers USA aus wichtigen Aids-Bekämpfungsprogrammen gibt es Befürchtungen, dass sich die Lage sogar wieder verschärft.

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Ein Impfschutz ist nach wie vor trotz langjähriger Forschung nicht in Sicht. Zwar gibt es neue Ansätze bei der Vakzinentwicklung, unter anderen auf Basis der mRNA-Technologie. Die entwickelten Impfstoffe sollen nach Versuchen an Tieren auch bei menschlichen Probanden »starke Immunreaktionen hervorgerufen« haben, wie die Autoren einer Studie im Fachblatt »Science« schreiben.

Bis diese zur Verfügung stehen, werden aber noch viele Jahre vergehen, wenn sie überhaupt die erforderlichen Tests bestehen. Daher steht beim Schutz vor Ansteckung weiterhin die sogenannte Präexpositions-Prophylaxe (Prep) im Vordergrund. Dafür gab es bisher nur ein Medikament, das zudem den Nachteil hatte, dass es für eine Schutzwirkung täglich eingenommen werden muss. Geschätzt neun Millionen nehmen das Prep-Mittel aktuell ein – wie regelmäßig, ist unklar.

Obwohl die Aids-Epidemie auch eine Geschichte großer, oft enttäuschter Medizin-Hoffnungen ist, reagierte die Fachwelt auf Lenacapavir fast schon enthusiastisch: »Science« feierte das neue Prep-Mittel als »wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2024«. Sharon Lewin, Präsidentin der Internationalen Aids-Gesellschaft, sprach von einem »bahnbrechenden Fortschritt« und einem »enormen Potenzial für die öffentliche Gesundheit«.

Das Virostatikum des US-Biotech-Unternehmens Gilead Sciences wurde seit 2022 zunächst zur Behandlung einer multiresistenten HIV-1-Infektion eingesetzt; als komplett neue Wirkstoffklasse verringert Lenacapavir das Risiko von Resistenzen. Dann stellte es sich es auch als wirksam für die Prävention heraus. In den USA wurde der Wirkstoff in diesem Juni dafür zugelassen, die europäische Arzneimittel-Agentur EMA empfahl im August die Zulassung für die EU.

Zweifel bestanden nur bezüglich der Verteilung: In den USA wird Lenacapavir bei der Aids-Behandlung für rund 40 000 Dollar pro Person und Jahr verkauft, was für Patienten in Ländern des globalen Südens schlicht unbezahlbar wäre. Auf internationalen Druck von Hilfsorganisationen, Aids-Aktivisten und Medizinern hin vergab Gilead Lizenzen an sechs Generikafirmen und versprach die Abgabe an 120 Länder mit niedrigen Einkommen und hoher HIV-Belastung zum Selbstkostenpreis.

»Die generische Herstellung von Lenacapavir ist entscheidend, damit diese bahnbrechende Option zur HIV-Prävention nicht nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten bleibt.«

Saiqa Mullick Universität Witwatersrand (Südafrika)

Dies kann nun 2027 starten. Die beiden indischen Generika-Hersteller erhalten technische und finanzielle Unterstützung von internationalen Organisationen. »Die generische Herstellung von Lenacapavir ist entscheidend, damit diese bahnbrechende Option zur HIV-Prävention nicht nur einer privilegierten Minderheit vorbehalten bleibt«, erklärte jetzt Saiqa Mullick, Direktorin am Wits Reproductive Health and HIV Institute der Universität Witwatersrand in Südafrika, das Dr. Reddy’s unterstützt.

Wegen des niedrigen Preises könnte die generische Version für Millionen Betroffener in einkommensschwachen Ländern zur bevorzugten Wahl werden, so Mullick gegenüber der Agentur Reuters. Injektionen im Sechsmonatsrhythmus könnten vor allem jenen helfen, für die Stigmatisierung, logistische Hürden oder andere Barrieren die tägliche Tabletteneinnahme erschweren, ergänzte Carmen Perez Casas, strategische HIV-Leiterin bei Unitaid, einer internationalen Einrichtung zum Erwerb von Medikamenten gegen HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose.

Von einem »begrüßenswerten Schritt in Richtung einer besseren Erschwinglichkeit und eines erweiterten Zugangs« spricht auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Allerdings profitierten Menschen außerhalb der ausgewählten Länder, in denen etwa ein Viertel der HIV-Neuinfektionen stattfindet, nicht von den Plänen. Ärzte ohne Grenzen und auch Aids-Aktivisten fordern daher, dass die Schlüsselgruppen und auch Schwellenländer mit hoher Erkrankungsrate einbezogen werden müssen.

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