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Starmer spielt der Rechten in die Karten
Vor allem wegen ihrer unsozialen Politik steht Großbritanniens Labour-Regierung unter Druck
Die Rede des Premierministers Keir Starmer und seiner Finanzministerin Rachel Reeves auf dem Labour-Kongress diese Woche bestätigte, dass Gewerkschaften und Labour-Abgeordnete handeln müssen: Diese Regierung klammert sich an Wahnvorstellungen, die für die Arbeiterklasse eine dauerhafte Verelendung bedeuten – und ihre Führung muss ersetzt werden, wenn Labour bei den nächsten Wahlen überhaupt eine Chance haben will, gegen eine erstarkte rassistische Rechte zu gewinnen.
Ebenso lähmend wie das Bekenntnis zur »Haushaltsverantwortung« – womit Schatzkanzlerin Reeves die Weigerung meint, die öffentlichen Ausgaben zu erhöhen, um die Auswirkungen von 15 Jahren Sparpolitik rückgängig zu machen – ist die Illusion, dass die Wahl von Starmer-Labour im vergangenen Jahr ein Zeichen für das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Partei sei.
Die linke Medienlandschaft in Europa ist nicht groß, aber es gibt sie: ob nun die französische »L’Humanité« oder die schweizerische »Wochenzeitung« (WOZ), ob »Il Manifesto« aus Italien, die luxemburgische »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek«, die finnische »Kansan Uutiset«, der britische »Morning Star« oder »Naše Pravda« aus Prag. Sie alle beleuchten internationale und nationale Entwicklungen aus einer progressiven Sicht. Mit einer Reihe dieser Medien arbeitet »nd« bereits seit Längerem zusammen – inhaltlich zum Beispiel bei unserem internationalen Jahresrückblick oder der Übernahme von Reportagen und Interviews, technisch bei der Entwicklung unserer Digital-App.
Mit der Kolumne »Die Internationale« gehen wir einen Schritt weiter in dieser Kooperation und veröffentlichen immer freitags in unserer App nd.Digital einen Kommentar aus unseren Partnermedien, der aktuelle Themen unter die Lupe nimmt. Das können Ereignisse aus den jeweiligen Ländern sein wie auch Fragen der »großen Weltpolitik«. Alle Texte unter dasnd.de/international.
»Ich werde das Vertrauen, das das britische Volk in uns setzt, nicht aufs Spiel setzen«, betont Reeves. Doch wenn wir Linken auf die Schwäche des Labour-Mandats hinweisen, ist das nicht Missgunst. Leute wie Reeves mögen tatsächlich glauben, sie hätten die lange Zeit scheinbar unwählbare Labour-Partei umgekrempelt, indem sie die transformative Wirtschaftsvision der Jeremy-Corbyn-Jahre aufgegeben hätten. Doch die Fakten stützen das nicht: Labour erhielt 2024 weniger Stimmen als 2019 und weit weniger als 2017.
Dass die Labour-Partei aufgrund ihrer bisherigen Leistung Stimmen einbüßt, ist angesichts der enormen Unbeliebtheit der Tories bis 2024 ein bemerkenswertes Zeichen dafür, wie wenig Begeisterung für diese Regierung und ihre Politik jemals herrschte. Und das muss man begreifen, wenn man den Aufstieg der extremen Rechten verstehen will: Wie Nick Lowles von Hope Not Hate (ein Bündnis gegen Rassismus, Neofaschismus, islamischen Extremismus und Antisemitismus – d.R.) auf einer gut besuchten Konferenz am Rande des Labour-Kongresses erklärte, nährt das Gefühl, Labour und die Tories seien gleichermaßen Vertreter eines kaputten Systems, den Aufstieg von Reform UK (rechtspopulistische Partei unter Führung von Nigel Farage, früher Brexit Party – d.R.). Wenn Politiker davon ausgehen, dass der Wahlsieg im Jahr 2024 eine Bestätigung der Veränderungen war, die Starmer in der Labour-Partei vorgenommen hat, und nicht einfach nur das Ergebnis des Stimmenverlusts der Tories, unterschätzen sie das Ausmaß der öffentlichen Abneigung gegenüber der üblichen Politik.
Die meisten Gewerkschaften sind sich bewusst, dass die Regierung unpopulär ist und dass die Bekämpfung der eklatanten Ungleichheit unabdingbar ist. Daher auch die Forderung von Unison (größte Einzelgewerkschaft im Vereinigten Königreich – d.R.) nach einer Vermögenssteuer als Reaktion auf Reeves’ Rede und die Forderung des Gewerkschafts-Dachverbandes TUC nach höheren Steuern für Banken und Glücksspielunternehmen.
Der Morning Star ist eine linksgerichte britische Tageszeitung mit langer Tradition: 1930 als Daily Worker gegründet, trägt sie seit 1966 ihren heutigen Namen. Seit 1945 wird die Zeitung von einer unabhängigen Leservereinigung (People’s Press Printing Society) getragen. Der Morning Star sieht sich als einzige sozialistische Tageszeitung Großbritanniens.
Eine Online-Version der Zeitung gibt es seit April 2004. Seit 2009 werden alle Inhalte online frei verfügbar gemacht; ein tägliches E-Paper der vollständigen Zeitung wird kostenpflichtig veröffentlicht. Die gedruckte Auflage bewegt sich unter 10 000 Exemplaren.
Doch die Geduld der Bürger ist bereits am Ende. Die Forderung nach Starmers Rücktritt ist nicht nur ein Schlachtruf der extremen Rechten. Sie ist auf Demonstrationen für Palästina und bei Protesten gegen die Kürzungen zu hören. Behindertenaktivisten versammelten sich vor dem Labour-Kongresszentrum, nachdem die Regierung inzwischen ein Jahr lang die Angriffe auf Behinderte und Kranke der früheren konservativen Regierung fortgesetzt hat. Sie feierten, dass der Aufstand gegen die Kürzungen Starmer beinahe zu Fall gebracht hätte – und schworen, die Sache zu Ende zu bringen.
Das ist wirklich keine »Politik wie gewohnt«. Es gibt nur wenige Präzedenzfälle dafür, dass eine mit einer so großen Mehrheit gewählte Regierung so verhasst und instabil ist – bezeichnenderweise ist eines der wenigen Beispiele ihre unmittelbare Vorgängerregierung –, obwohl die Popularität der Labour-Partei noch schneller gesunken ist als jene von Boris Johnson und von einem viel niedrigeren Ausgangspunkt aus.
Das britische politische und wirtschaftliche System steckt in einer Legitimitätskrise, die derzeit die gefährlichste rechtsextreme Bedrohung in der Geschichte unseres Landes befeuert. Wenn die Linke und die Arbeiterbewegung nicht mit diesem System brechen, wird die extreme Rechte gewinnen.
Dieser Text ist am 29. September in unserem Partnermedium »Morning Star« (Großbritannien) erschienen. Der Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
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