Von wegen Inklusion: Drei Stunden Schule pro Woche

Tausende Berliner Kinder mit Behinderung werden nicht richtig beschult

  • Leonie Hertig
  • Lesedauer: 6 Min.
Kinder mit Inklusionsbedarf dürfen theoretisch bei der Schulpflicht nicht behindert werden – doch in der Praxis sieht es anders aus.
Kinder mit Inklusionsbedarf dürfen theoretisch bei der Schulpflicht nicht behindert werden – doch in der Praxis sieht es anders aus.

Wenn bei dem elfjährigen Matis eine Schulstunde ausfällt, freut er sich nicht wie seine anderen Klassenkameraden. Denn der Schüler sitzt im Rollstuhl und darf momentan nur an drei Stunden pro Woche am Unterricht teilnehmen. Das liegt nicht an ihm, sondern an dem Mangel an Ressourcen. Matis hat die Stoffwechselerkrankung Adrenoleukodystrophie, die fortschreitend die Nervenbahnen angreift und zerstört – er kann sich nicht alleine von Klassenraum zu Klassenraum fortbewegen, auch mitschreiben ist ihm unmöglich. Selbst um sich gemütlicher hinzusetzen, braucht er Hilfe. »Auf dem Papier ist die Situation gut«, erzählt seine Mutter, Caro E., »nd«. »Aber bei der Umsetzung fehlt es an Ressourcen, Stellen und Geldern.«

Um an einer normalen Unterrichtsstunde teilzunehmen, benötigt Matis viel Hilfe: Eine Person, die ihn pädagogisch unterstützt, ihn versteht und mitschreibt – und jemanden, der sich um seine medizinischen Bedürfnisse kümmern kann und weiß, was bei einem Krampfanfall zu tun ist.

»Wir haben nicht das Gefühl, dass Matis Schulpflicht hat. Wir sind diejenigen, die hinterher sind«, sagt Caro. Diese Perspektive teilt auch Sabine Schmidt, Schulleiterin des Förderzentrums Gustav-Meyer-Schule in Kreuzberg. Ihr Eindruck sei, dass sich Familien wie die von Matis alleine durch den Behördendschungel kämpfen müssten – zusätzlich zu der Belastung, ihr krankes Kind zu betreuen. »Das Recht auf Schulbildung und Teilhabe wird nicht immer gewährt, das ist das, was mich am meisten aufregt«, so Schmidt. Lange wurden keine Zahlen für Kinder erhoben, die wegen ihrer Behinderung nicht der Schulpflicht nachgehen. Das ändere sich momentan auf Senatsebene, so Schmidt. »Momentan wird davon ausgegangen, dass 2000 Kinder in Berlin gar nicht beschult werden«, so Schmidt.

Dabei sei die Rechtsgrundlage klar. »Jeder junge Mensch hat das Recht auf zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung, ungeachtet insbesondere einer möglichen Behinderung. Eine ausdrückliche Regelung, dass das Recht auf Bildung verwehrt werden kann, gibt es nicht im Schulgesetz«, erklärte die Anwältin Jana Jeschke im April während eines Fachgesprächs zur Lage versorgungsintensiver Kinder. Geladen hatte der Fachbeirat Care Management. Bei einer Beurlaubung von mehr als vier Wochen müsste den Kindern ein anderes Bildungsangebot zur Verfügung gestellt werden. Das könne etwa Privatunterricht oder E-Learning sein. Das bedeute aber auch, dass in den allermeisten Fällen der Schulausschluss oder Kurzbeschulung rechtswidrig seien, so Jeschke. »Es gibt also auch keine Rechtsgrundlage, um Eltern zu sagen, dass ihr Kind ab sofort gar nicht mehr oder nur noch verkürzt beschult wird oder früher vom Unterricht abgeholt werden muss.«

Um eine bessere Lösung für Matis zu finden, schaut sich die Familie das Förderzentrum Gustav-Meyer-Schule in Kreuzberg an. In einer Klasse backen die Kinder einen Kuchen. Die Klasse ist gemischt, manche haben Lernschwierigkeiten, andere Verhaltensauffälligkeiten, doch alle sind dabei. »Die Schüler erfahren bei uns einen lebenspraktischen Unterricht«, erklärt Schulleiterin Sabine Schmidt. Während ein Schüler, der lesen kann, das Rezept vorliest, misst ein anderes Kind das Mehl ab. Ein drittes drückt den Knopf, der dafür sorgt, dass das Rührgerät zu mixen anfängt.

Matis und seine Familie sind sofort begeistert vom Unterricht. »Er möchte unbedingt dort hingehen«, erzählt Caro E. Hier würde auf seine Bedürfnisse eingegangen – und das jeden Tag, anstatt nur drei Stunden in der Woche. Doch Matis ist nicht der einzige Interessierte. Der Bedarf ist viel höher als das Angebot. Für Matis kann in der Gustav-Meyer-Schule weder in der vierten, fünften noch sechsten Klasse ein Platz gefunden werden. Zwar werde keine Statistik geführt, wie viele Kinder sich auf Plätze an Förderschulen bewerben, so die Pressestelle der Senatsbildungsverwaltung, jedoch könne man sagen, »dass die Nachfrage nach Plätzen an Schulen mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt steigt und in der Regel bedient werden kann.«

An einer Regelschule benötigt Matis zusätzliche Unterstützung. Jedoch ist die sogenannte Schulhilfe, die Kinder mit Einschränkungen unterstützt, eigentlich nicht für Matis geeignet. »Das Problem ist, dass Schulhelfer*innen Schüler*innen bei der medizinischen Versorgung, Essen, An- und Ausziehen oder beim Gang zur Toilette helfen«, erklärt Hanno Rüther. Er ist Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung und Schulleiter einer Grundschule. »Sie sind nicht dafür gedacht, im pädagogischen Bereich auszuhelfen.«

In seiner Grundschule betreue eine Schulhelferin fünf Schüler*innen, erzählt Rüther. Diese Schüler*innen hätten Diabetes oder motorische Einschränkungen. »Die Schulhelferin hat eine Schulung gemacht, wie mit Diabetes umzugehen ist, aber sie ist keine Krankenschwester«, so Rüther. In Berlin gebe es keine einzelne Person, die Kinder mit besonderen Bedürfnissen den ganzen Tag in Regelschulen sowohl medizinisch als auch pädagogisch betreuen könne. Daher muss für Matis’ medizinische Bedürfnisse ein Pflegedienst in die Schule kommen. Matis’ Familie überlegt, seine Einzelfallhilfe, die ihn zu Hause unterstützt, perspektivisch auch für die Schule zu beantragen. Aber das kostet Zeit und Nerven.

»Das Recht auf Bildung und Teilhabe wird nicht immer gewährt, das ist, was mich am meisten aufregt.«

Sabine Schmidt 
Leiterin der Gustav-Meyer-Schule

Doch selbst die Hilfe, die er von der Schulhilfe kriegen kann, ist nicht genügend. »Er ist eins von elf Kindern, die sich die Stunden der Schulhelfer*innen, denen 55 Stunden pro Woche gewährleistet wurden, aufteilen müssen«, sagt seine Mutter Caro. Theoretisch hat Matis ein Recht darauf, an jeder Schulstunde teilzunehmen. Doch die Schulhelferin kann nur drei Stunden pro Woche für ihn da sein.

Eine Sonderpädagogin im Berliner Schuldienst, die anonym bleiben möchte, erzählt gegenüber »nd«, dass sie zwar von Schulen weiß, an denen aufgrund fehlenden Bedarfs die Stunden der Schulhelfer*innen gestrichen wurden. »Allerdings erhöht sich die Gesamtstundenzahl nicht, egal wie viele Kinder ich als berechtigt auf die Liste bekomme. Das heißt: Die Stundenzahl reicht hinten und vorne nicht«, so die Sonderpädagogin. »Zwei bis drei Kinder mehr, die wir unterstützen müssen, sollten sich sehr wohl in der Zahl der Stunden zeigen und zu einer höheren Zumessung führen.«

»Vor allem beim Thema Teilhabe haben wir hier an so vielen Stellen als Gesellschaft insgesamt versagt und nicht die richtigen Lehren gezogen«, sagte Ellen Haußdörfer (SPD), Staatssekretärin für Gesundheit und Pflege, während des Fachgesprächs im April. »Es geht hier also nicht um individuelle Probleme, die durch ungünstige Verknüpfungen entstanden sind, sondern um viele junge Menschen, die aktuell nicht ausreichend beschult werden können. Schule, wie sie jetzt konzipiert ist, kann diese vielen Kinder nicht adäquat versorgen«, so Haußdörfer. Sie kritisierte, dass vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung schon lange über den Fachkräftemangel und zeitliche und finanzielle Ressourcen diskutiert werde. Die Konsequenz sei, dass viele Eltern sich gezwungen sähen, ihre Kinder früher aus der Schule abzuholen, ohne geeignete Anschlussangebote, so der Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen.

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