- Wirtschaft und Umwelt
- Globale Gesundheit
Antibiotikakrise als soziales Problem
Weltgesundheitsorganisation warnt vor Gesundheitsgefahren durch zunehmende Resistenzen
»Die Antibiotikaresistenz gefährdet die Errungenschaften der modernen Medizin und die Gesundheit von Familien weltweit.« Dies erklärte Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), am Montag in Genf bei der Vorstellung der neuen Glass-Studie. Die Abkürzung steht für das Global Antimicrobial Resistance and Use Surveillance System, das die WHO vor zehn Jahren etablierte, um Daten zum Thema zu sammeln und zu analysieren. Die Studie liefert erstmals Schätzungen zur Verbreitung von Resistenzen bei 93 Erreger-Antibiotikum-Kombinationen.
Die Ergebnisse sind alarmierend: 2023 war weltweit jede sechste labordiagnostisch bestätigte bakterielle Infektion resistent gegen Antibiotika. Diese verlieren dadurch ihre Wirkung, Bakterien zu töten oder deren Wachstum zu hemmen. Zwischen 2018 und 2023 stieg die Antibiotikaresistenz (AMR) in über 40 Prozent der überwachten Fälle, jährlich um 5 bis 15 Prozent.
Die UN-Generalversammlung hatte 2024 das Ziel ausgegeben, die Zahl der AMR-bedingten Todesfälle bis 2030 um 10 Prozent zu senken. Doch die Entwicklung geht in die entgegengesetzte Richtung. Besonders besorgniserregend ist die Zunahme von Resistenzen bei sogenannten Gram-negativen Bakterien: So stieg die Resistenz des Krankenhauskeims Klebsiella pneumoniae gegen das Breitband-Antibiotikum Imipenem zwischen 2018 und 2023 jährlich um 15,3 Prozent.
Zu den Gram-negativen Bakterien zählen auch E. coli, häufige Auslöser von Blutstrom- und Harnwegsinfektionen, sowie nicht typhoidale Salmonellen, die Magen-Darm-Entzündungen verursachen. Letztere werden durch den Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung begünstigt. Die industrielle Landwirtschaft treibt die Resistenzentwicklung laut dem Bericht maßgeblich voran.
»Es ist unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft wirksame Behandlungen für viele dieser Bedrohungen verfügbar sein werden.«
Yvan Hutin WHO
Hinzu kommt die Zurückhaltung der Pharmaindustrie, neue Antibiotika zu entwickeln. »Die Pipeline ist schwach, und es ist unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft wirksame Behandlungen für viele dieser Bedrohungen verfügbar sein werden«, sagte Yvan Hutin, Direktor der AMR-Abteilung der WHO. Viele neue Medikamente seien lediglich Abwandlungen bestehender Antibiotika.
Die AMR-Krise ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales Problem. Die WHO spricht von einer Syndemie, bei der Antibiotikaresistenzen und unterfinanzierte Gesundheitssysteme sich gegenseitig verstärken. Die Glass-Daten zeigen, dass Länder mit niedrigem Einkommen und schwachem Gesundheitssystem besonders hohe Resistenzraten aufweisen. Dort fehlt es an medizinischen Alternativen, weshalb Antibiotika oft unkontrolliert eingesetzt werden. Die Folgen sind gravierend: »Infektionen, die früher leicht zu behandeln waren, erfordern heute teurere und oft toxischere Antibiotika und bergen ein höheres Risiko«, erklärte Silvia Bertagnolo, Leiterin der WHO-Abteilung für AMR-Überwachung. Besonders gefährdet seien die ärmsten Bevölkerungsgruppen.
Die höchsten Raten wurden 2023 in Südostasien und der Region Östliches Mittelmeer gemessen, wo fast jede dritte Infektion resistent war. In Subsahara-Afrika war es jede fünfte. Deutschland liegt leicht unter dem globalen Median. Das Robert-Koch-Institut warnt, dass die Zahl der Todesfälle durch resistente Erreger bis 2050 weltweit auf fast 10 Millionen pro Jahr steigen könnte.
Die hohen Raten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen hängen auch mit einer Diagnostiklücke zusammen. In Subsahara-Afrika können nur etwa 1,3 Prozent der Labore bakterielle Tests durchführen, wie eine aktuelle Studie im Fachblatt »The Lancet« zeigt.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Viktoria Schneitler, Oberärztin am Universitätsklinikum Düsseldorf, verweist auf die Konsequenzen: Ohne Labortests müssten Ärzt*innen entscheiden, ob sie Patient*innen unbehandelt sterben lassen oder auf Verdacht das stärkste verfügbare Antibiotikum einsetzen. Oft griffen sie dann zu Reserve-Antibiotika, die eigentlich nur für multiresistente Erreger vorgesehen sind und eine strenge Überwachung erfordern – sofern diese Medikamente überhaupt verfügbar seien.
Um dem Problem zu begegnen, müssen laut WHO die Laborkapazitäten ausgebaut werden. Und es braucht robuste Überwachungssysteme, die in einer Reihe von Ländern und Regionen noch fehlen. Bis 2030 sollen alle Länder in der Lage sein, qualitativ hochwertige Daten an Glass zu melden.
Dazu sind deutliche Investitionen in die Gesundheitssysteme weltweit notwendig, statt Mittel zu kürzen. Im Rahmen des One-Health-Ansatzes fordert die Organisation zudem strengere Kontrollen beim Antibiotika-Einsatz in der Landwirtschaft, insbesondere in der Tierhaltung. Und die WHO sieht auch die Pharmaindustrie in der Pflicht: Unternehmen müssten dringend mehr in die Entwicklung neuer Antibiotika investieren, heißt es im Bericht.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.