Migration in deutscher Tradition

Nicole Mayer-Ahuja über die Stigmatisierung von Menschen mit Migrationsgeschichte

Zuwanderung und Rassismus – Migration in deutscher Tradition

In Nordrhein-Westfalen gelangten vier AfD-Kandidaten in die Stichwahlen für das Amt des Stadtoberhauptes. In Duisburg setzte sich Oberbürgermeister Sören Link (SPD) durch, dem Wahlplakate »großes Herz und klare Kante« bescheinigen. Der Grund, laut Deutschlandfunk: Er kämpfe erfolgreich »gegen Armut, Migration und Sozialbetrug«. Sofort sind sie da, die Bilder: Männer aus Rumänien oder Bulgarien, die mit Großfamilien in Schrottimmobilien ziehen, »Minijobs« vortäuschen, Bürger- und Kindergeld abgreifen, der Stadt überhöhte Mieten in Rechnung stellen und sie an Schleuser abführen, denen die Häuser gehören. Ein Problem für Kommunalpolitik – keine Frage. Doch die Dauerschleife der Skandalisierung hat nur einen Effekt: Die Gleichung »Migration = Sozialbetrug« verhakt sich in den Köpfen. Wenn das passiert, hat die AfD gewonnen – unabhängig vom Prozentanteil.

Der einzige Einwand gegen diese Hysterie, der noch durchdringt, lautet: »Migration = Fachkräfte«. Tatsächlich haben zwei Drittel der Beschäftigten im Aus- und Trockenbau, im Fliesenlegerhandwerk, im Fahrdienst von Bussen und Straßenbahnen und in der Gastronomie, 40 Prozent in Fleischverarbeitung, Lebensmittel-Einzelhandel und Güterverkehr oder 30 Prozent in der Altenpflege laut Statistischem Bundesamt eine Einwanderungsgeschichte. Viele zahlen in die gesetzliche Rentenversicherung ein, obwohl sie nicht in Deutschland bleiben wollen. Das ist das Gegenteil von Sozialbetrug.

Und trotzdem gilt oft »Migration = Armut«. Etwa 16 Prozent aller Beschäftigten, darunter überproportional viele Zugewanderte, beziehen Niedriglöhne, verdienen also weniger als zwei Drittel des Medians (derzeit 13,79 Euro pro Stunde), den die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als »living wage« bezeichnet: als Einkommen, von dem man leben kann.

Konfliktfeld Arbeit

Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für die Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Sie forscht zu Veränderungen der Arbeitswelt, auch in transnationaler Perspektive. Außerhalb der Wissenschaft ist sie linken Gewerkschafter*innen seit Langem bekannt, eine breite Öffentlichkeit erreichte sie 2021 mit ihrem Sammelband »Verkannte Leistungsträger:innen« über Fahrradkuriere, Altenpflegerinnen oder Erntehelfer, den sie zusammen mit dem Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben hat. Mayer-Ahuja ist die erste Akademikerin in ihrer Familie. Aktuell untersucht sie Dynamiken von Arbeit in der Klassengesellschaft. Kapitalismus beruht auf Differenz und Konkurrenz - das prägt auch die Beziehungen zwischen Kolleg*innen, den Geschlechtern oder Einheimischen und Migrant*innen. Was bringt die Arbeitenden auseinander? Und welche gemeinsamen Erfahrungen mit Lohnarbeit lassen sich trotz alledem für eine solidarische Politik nutzen, die dazu beiträgt, dass das Verbindende (zeitweise) schwerer wiegt als das Trennende? Ihr neues Buch »Klassengesellschaft akut. Warum Lohnarbeit spaltet - und wie es anders gehen kann« erscheint am 18. September bei C.H. Beck.

Solidarität erfahren sie kaum. Beschäftigte aus Rumänien oder Bulgarien werden geduldet, solange sie schlachten, bauen oder Lkw fahren, stehen aber dennoch unter pauschalem Missbrauchsverdacht. Nur sie wurden bei Corona-Ausbrüchen kaserniert, um »die Bevölkerung zu schützen«, wie es NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) damals formulierte.

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Hart arbeiten für wenig Geld – aber nicht zur Bevölkerung gehören: Dieses Modell hat in Deutschland eine ungute Tradition, die von der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus bis zu »Gastarbeit« (West) bzw. »Vertragsarbeit« (Ost) reicht. »Remigrationsfantasien« setzen dem die Krone auf, denn sie bedrohen (unabhängig von Pass, Biografie oder Erwerbsstatus) alle, die nicht genug »deutsches Blut« nachweisen können. Auch das hatten wir schon.

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Man sei es den Beschäftigten schuldig, Migration zu begrenzen, tönt es über Parteigrenzen hinweg. Doch profitieren Pflegekräfte von einer Schließung der Grenzen, die den Personalmangel weiter verschärft – oder Arbeitende, die alt, krank und auf Unterstützung angewiesen sind? Löhne, Arbeitszeiten und Leistungsstandards geraten insgesamt unter Druck, wenn migrantische Beschäftigte gezwungen werden, zu fast allen Bedingungen zu arbeiten. Karl Marx hatte recht: »Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.«

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