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Wie viel NS-Architektur verkraftet Berlin?
In Charlottenburg beleuchten Nazi-Laternen mehrere Kilometer auf der Straße
Massiv stehen sie in Reih und Glied an der Ost-West-Achse im Ortsteil Charlottenburg. Die einst vom NS-Architekten Albert Speer entworfenen Kandelaber strahlen seit knapp 90 Jahren auf der Allee zwischen den Bahnhöfen Tiergarten und Weskreuz, auf der schon das Deutsche Kaiserreich seine Militäraufmärsche organisierte. Sie leuchten auf die Straße, in die Wohnungen der Anwohner*innen und gen Himmel. Einst entworfen, um die Allee ohne Oberbeleuchtung hell zu halten, ist ihr praktischer Nutzen immer noch unbestreitbar. Aber wie angemessen ist ihr Bestand heutzutage noch?
Eine kleine Rundschau über die Straße zeigt: Kaum einer Person ist bewusst, welchem Kontext die Kandelaber entspringen. Eine Anwohnerin, die anonym bleiben will, meint: »Es ist gut, dass die Straße so hell ist. Ich fühle mich damit sicherer, bitte mehr.« Auch von Beschwerden über das helle Licht im ersten und zweiten Stock der Wohnungen ist kaum etwas zu hören. Vielleicht ist neben Straßenlärm und Abgasen die Dauerbeleuchtung im Zimmer nicht der Rede wert.
Für die überdrehte Beleuchtung greift die Senatsverwaltung für Umwelt tief in die Taschen. Auf Anfrage teilt sie mit, dass sie im Jahr 2024 knapp 122 000 Euro allein für die Stromkosten ausgegeben hat, weitere 31 000 für Instandhaltung und Schadensbeseitigung. Normale Straßenlaternen für Alleen verbrauchen etwa die Hälfte an Strom. Für die Verwaltung kein Grund hier auf Erneuerung zu setzen. Die Kandelaber sind »stadtbildprägend«, schreibt die Pressestelle. Ein Ersatz sei daher nicht geplant. Man plane einzig mittelfristig auf LED umzusteigen und durch eine gezieltere Beleuchtung die Häuserfassaden weniger stark anzuleuchten.
Die Albert-Speer-Kandelaber kosteten vergangenes Jahr 122 000 Euro an Strom – doppelt so viel wie andere Laternen.
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Können Bauten aus der NS-Zeit heutzutage als »stadtbildprägend« eingestuft werden oder sollte man diese nicht viel eher mit der Zeit ersetzen? Der Historiker Magnus Brechtken vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin möchte differenziert auf das nationalsozialistische Erbe im öffentlichen Raum blicken. Für ihn gibt es Bauten, die ein klares ideologisches Erbe der Zeit sind. »Ich denke dabei etwa an das Zeppelinfeld in Nürnberg«, so Brechtken. Das riesige Areal im Süden der fränkischen Stadt wurde für die Reichsparteitage gebaut, immer noch steht eine gigantische Tribüne an Ort und Stelle.
»Bei den Kandelabern würde ich von meiner Wahrnehmung aus diese ganze Position deutlich geringer betrachten«, erklärt Brechtken weiter, »weil ich nicht den Eindruck habe, dass diese Kandelabern noch eindeutig der Zeit und der Person und dem Kontext Albert Speer zugeschrieben werden.«
Ein architektonisches Element wird laut Brechtken mit der Zeit kontextualisiert. Wenn sich die Umgebung verändert, wandeln sich die Bauten in ihrer Bedeutung. Gerade bei den Kandelabern sei dies passiert, so Brechtken. »Der Asphalt, die Straßenform und die Autos, die da geparkt sind, sind anders als vor 80 Jahren.«
Vor Ort beschäftigen andere Themen die Passant*innen. Die Anwohnerin Ken, die nur mit dem Nachnamen genannt werden will, meint: »Die Laternen merkt man kaum, sie sind sogar hübsch. Andere Nazi-Bauten, wie etwa der Flughafen Tempelhof, die sind bedrohlich.« Man sollte aber derzeit über andere Themen mehr reden als über die Vergangenheit, »etwa darüber, dass Deutschland derzeit einen Genozid unterstützt«, so Ken.
An einer Bushaltestelle steht derweil Isra Keya mit ihren zwei Kindern. Auch sie kannte den Kontext der Kandelaber nicht. Doch der alltägliche Kontakt in Berlin mit Bauten des Nationalsozialismus, verbunden mit der aktuellen politischen Situation, macht ihr Sorgen. »Es prägt die Stimmung. Mit all den Menschen, die zurück zur Nazizeit wollen, habe ich Angst um mich und die Zukunft meiner Kinder«, sagt sie und ergänzt: »Sie sind hier geboren und haben den deutschen Pass, aber reicht das?« Ihre Augen blicken fragend auf das Mikrofon.
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So sind für den Historiker Brechtken solche Orte schließlich Anlässe, um kritisch über die NS-Zeit und deren Erbe zu sprechen. »Deren Existenz ist im Grunde eine Forderung an die Personen der Gegenwart. Und diese Forderung kann man ablehnen oder annehmen. Und ich wäre immer dafür, dass man sie annimmt, um dann genau dieses Gespräch zu führen, so wie wir das jetzt geführt haben«, schließt der Historiker ab.
Die Kandelaber als Diskussionsaufforderung? Zumindest weisen sie den Weg entlang der überdimensionierten Straße vom Westkreuz bis hin zur Siegessäule. Trotz aller architektonischen Veränderungen ein Hauch alter Nazi-Logik in einem Land, das lang behauptete, über die NS-Zeit hinweg zu sein.
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