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Tierversuche: Wie viel Opfer braucht Heilung?
Wissenschaftler sehen die medizinische Forschung in Berlin durch den Tierschutz eingeschränkt
Jens Hoffmann ist frustriert. Der Pharmakologe beschäftigt sich bei der Deutschen Krebsgesellschaft mit den Ursachen von Krebserkrankungen und möglichen Behandlungswegen. Zurzeit will er prüfen, welchen Einfluss ein Wirkstoff auf entstehende Tumore hat. Dazu muss er auch Tierversuche an Mäuse durchführen, wofür er einen Antrag beim zuständigen Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) gestellt hat.
»Es kommen haufenweise sinnlose Rückfragen«, beschwert er sich. Einen umfassenden Fragenkatalog habe er in zeitfressender Kleinarbeit schon bearbeitet, nun seien gerade 30 Seiten weitere Fragen in seinem Postfach. »Wir werden gefragt, warum wir Mäuse verwenden und nicht Ratten«, sagt er. Solange das Lageso keine Freigabe erteile, stehe die Forschung still. Mindestens ein Jahr, schätzt Hoffmann nach den Erfahrungen mit anderen Projekten, werde es dauern, bis es weitergehen kann.
Die Ursache, die Hoffmann für die Verzögerungen identifiziert: das Berliner Verbandsklagerecht. Das erlaubt es anerkannten Tierschutzorganisationen, Einsicht in Akten zu Genehmigungsverfahren zu Tierversuchen zu nehmen und mit Klagen eine gerichtliche Klärung von Streitfällen zu erreichen. »Das Gesetz verzögert wichtige Forschungsarbeit«, sagt Hoffmann. Dabei seien Tierversuche oft unumgehbar. »Rein rechtlich ist bei neuen Medikamenten eine toxikologische Prüfung zwingend vorgeschrieben.«
Für Stefan Taschner ist das Verbandsklagerecht dagegen ein »Meilenstein«. Der tierschutzpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion redet am Mittwochabend auf einem Fachgespräch zum Tierschutz, zu dem seine Fraktion und Die Linke eingeladen haben. »Das Verbandsklagerecht erlaubt es Organisationen, für Tierschutz zu kämpfen«, sagt er. Eingeführt wurde das Verbandsklagerecht 2020 unter dem damaligen rot-rot-grünen Senat.
Die Sorgen der Wissenschaft hält Taschner für unbegründet. »Die befürchtete Klagewelle ist ausgeblieben«, sagt er. »Die Organisationen gehen sorgsam mit dem Klagerecht um.« An der Darstellung der Wissenschaftler irritiert ihn vor allem, dass das Verbandsklagerecht keine Tierversuche verhindern könne. Das Gesetz erlaube den Verbänden nur, nach Abschluss des Genehmigungsprozesses Klage einzureichen und Tierversuche im Nachhinein für rechtswidrig zu erklären.
Tatsächlich scheinen die nackten Zahlen diese Position zu unterstützen. Den Lageso-Zahlen zufolge kam es seit der Einführung des Gesetzes bei tausenden Genehmigungsverfahren zu 89 Akteneinsichten durch Tierschutzverbände, in 42 Fällen gaben die Verbände eine Stellungnahme ab. Seit der Einführung des Gesetzes kam es zu zehn Klagen, von denen gerade mal drei Tierversuche umfassten. Das Verbandsklagerecht umfasst auch Genehmigungsverfahren im Bereich landwirtschaftlicher und privater Tierhaltung. Im Jahresschnitt werden 97 Prozent der beim Lageso eingereichten Anträge positiv beschieden.
Krebsforscher Jens Hoffmann sieht allerdings durchaus direkte Auswirkungen auf den Genehmigungsprozess. »Beim Lageso herrscht Angst, dass man verklagt wird«, sagt er. Denn die Klagen der Tierschutzverbände richteten sich gegen die Behörde. »Das Lageso handelt im vorauseilenden Gehorsam«, sagt Hoffmann.
Dieser Effekt wird von den Tierschützern durchaus begrüßt. »Natürlich hat das Verbandsklagerecht dazu geführt, dass es im Genehmigungsprozess zu mehr Nachfragen kommt«, sagt Mika Jue Casper von dem Verein Ärzte gegen Tierversuche bei der Veranstaltung der Grünen. »Aber das ist allein dem geschuldet, dass das Lageso Rechtssicherheit sicherstellen muss.« Das Verbandsklagerecht schaffe nur eine Kontrollinstanz für diese Rechtssicherheit. Für Casper ist es legitim, dass sich die Rückfragen des Lageso häufig auf einzelne Formulierungen in den Anträgen bezögen und nicht auf das Gesamtkonzept der Tierversuche. »Es geht darum, dass wir sagen, dass auch Formulierungen zu Tierschutzverstößen führen können«, sagt Casper.
Auch an der großen Dauer der Genehmigungsverfahren zweifeln die Tierschützer. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit beim Lageso liege bei 55 Tagen, gibt Patrick Merkle von der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutzrecht an. Eine im Publikum anwesende Tierschutzbeauftragte eines medizinischen Forschungszentrums zweifelt das allerdings an. »Es wäre ein Traum, wenn innerhalb von zwei Monaten über einen Tierversuchsantrag entschieden würde«, sagt sie. Doch seien die 55 Tage die Zeit, die es bis zur ersten Antwort des Lageso dauere. An diese schließe sich zumeist eine lange Korrespondenz über Detailfragen an. »Bei uns dauert es im Schnitt über ein Jahr, bis ein Tierversuchsantrag wirklich genehmigt wird«, sagt sie. »Inhaltlich wird für den Tierschutz dabei nichts getan.« Sie wünsche sich, dass den Tierschutzbeauftragten an den Forschungsinstituten selbst mehr Kompetenzen zugesprochen würden, als dass externe Akteure Zugriffsrechte erhielten.
Neben Rechtssicherheit hoffen die Tierschützer noch auf einen weiteren Effekt. »Wir weisen in den Verfahren auf tierversuchsfreie Verfahren hin«, sagt Mica Jue Casper. Solche Alternativmethoden werden in Fachkreisen als »3R-Forschung« bezeichnet. Die angesprochenen drei »R« stehen für »Replace« (ersetzen), »Reduce« (reduzieren) und »Refine« (verbessern). Wo möglich, sollen Tierversuche also durch tierfreie Alternativen ersetzt werden, die Versuche so gestaltet werden, dass weniger Tiere genutzt werden, und die Tiere, die Versuchen ausgesetzt werden, mit weniger Leid konfrontiert werden.
Diese 3R-Forschung ist in den vergangenen Jahren vor allem in Berlin stark gewachsen, an der Charité und dem veterinärmedizinischen Fachbereich der Freien Universität gibt es eigene Forschungsstellen zu dem Thema. Im öffentlichen Interesse liegt vor allem das erste »R«: der Ersatz von Tierversuchen.
Ein bekanntes Beispiel für Alternativmethoden sind sogenannte Organoide. Dabei handelt es sich um aus Stammzellen gezüchtete Zellkulturen, die die physiologischen Eingeschaften menschlicher Organe imitieren. So lassen sich in einer Petrischale Niere, Magen und selbst das Gehirn simulieren. Mit diesen Organoiden kann dann getestet werden, wie sich etwa neue Medikamente auf die Organe auswirken.
Doch die Alternativmethoden haben ihre Grenzen. Krebsforscher Jens Hoffmann weist auf ein Problem hin: »Ein so komplexes Wesen wie den Menschen kann man mit Zellkulturen nicht simulieren«, sagt er. An der isolierten Betrachtung davon, wie sich ein Medikament auf ein Organ auswirke, ließen sich die Nebenwirkungen für andere Organe nicht ablesen. »Versuche an Organoiden können nichts darüber aussagen, ob man von einem Medikament Depressionen bekommt«, sagte der Molekularmediziner Michael Gotthardt im Januar im Wissenschaftsausschuss des Abgeordnetenhauses zu dieser Frage.
»Wir verwenden Ersatzmethoden zu Tierversuchen, wo es möglich ist.«
Jens Hoffmann Pharmakologe
»Wir verwenden Ersatzmethoden, wo es möglich ist«, sagt Hoffmann. Doch an vielen Stellen blieben Tierversuche alternativlos. Angesichts des biotechnologischen Fortschritts sei er aber durchaus optimistisch, dass die Forschung in 20 bis 30 Jahren auf die Versuche am Tier verzichten könne.
Wie viele Tierversuche durch den impliziten Druck des Verbandsklagerechts durch Alternativmethoden ersetzt wurden, lässt sich schwer nachvollziehen. Fakt ist, dass die Zahl der verbrauchten Tiere im Verlauf der Jahre deutlich gesunken ist. Kamen 2018 noch insgesamt 222 588 Tiere in Versuchen zum Einsatz, waren es 2023 noch 132 061. In der großen Mehrheit handelt es sich um Mäuse. Für Hoffmann liegt das nicht nur daran, dass Alternativmethoden inzwischen verbreiteter sind. »Die Forschung wandert aus Deutschland ab«, sagt er. Berlin verfüge weiter über exzellente Wissenschaftler in der Grundlagenforschung, doch wenn ein Durchbruch gelinge, der Aussicht auf eine neue Therapie biete, verlagerten diese ihre Forschungstätigkeit in die USA oder nach Ostasien, wo die Tierschutzvorschriften deutlich lockerer seien.
Wie geht es jetzt weiter mit dem Verbandsklagerecht? Für Katrin Seidel, tierschutzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, ist es akut bedroht. »Es ist eine ziemlich sichere Sache, dass das Verbandsklagerecht abgeschafft werden soll«, sagt sie auf der Veranstaltung im Abgeordnetenhaus. Fragt man bei der zuständigen Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz nach, klingt das weniger eindeutig. »Der interne Evaluationsbericht zum Tierschutzverbandsklagegesetz liegt vor und wird derzeit ausgewertet. Auf Grundlage der Ergebnisse wird geprüft, welche weiteren Schritte im Umgang mit dem Gesetz erforderlich sind«, antwortet eine Sprecherin auf eine entsprechende nd-Anfrage.
Tatsächlich hatte Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) öffentlich mehrmals angedeutet, das Verbandsklagerecht für bürokratischen Ballast zu halten. Die von ihrer Sprecherin angesprochene interne Evaluation soll nicht mit Kritik an dem Vorhaben sparen. So stellt es zumindest Silvi Paulick von der Albert-Schweitzer-Stiftung dar, die Einblick in das Dokument nehmen konnte. Sie kritisiert die Methode, nach der die Senatsverwaltung vorgegangen ist, als »unzureichend«.
Die Abschaffung steht noch vor einer weiteren Hürde: Die SPD, die das Gesetz 2020 mitbeschloss, steht einem ersatzlosen Ende kritisch gegenüber. »Für uns steht eine Abschaffung nicht zur Debatte«, sagt Tamara Lüdke, tierschutzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Im Koalitionsvertrag habe man sich auf eine Reform geeinigt. Mit einer solchen Reform könne man sowohl bürokratische Hürden abbauen, als auch den Tierschutz stärken, glaubt sie. Dafür könne man etwa die Qualität der Anträge verbessern, so die Zahl schriftlicher Nachfragen reduzieren und dafür die Kontrollen vor Ort erhöhen.
Wie unversöhnlich sich die beiden Seiten in diesem Konflikt gegenüberstehen, wird an den Zwischentönen in den Gesprächen deutlich. »Jedes Jahr sterben in Deutschland 200 000 Menschen an Krebs«, sagt Pharmakologe Jens Hoffmann. »Die Tierschützer sehen nicht ein, dass es um Menschenleben geht.« Ein Vertreter der Gruppe Ärzte gegen Tierversuche nennt auf der Veranstaltung im Abgeordnetenhaus die Experimente an den Tieren dagegen einen »Missbrauch von Lebewesen, dem kein Nutzen gegenübersteht«.
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