Weltklimakonferenz: Beléms unerfülle Utopie

Armenhaus, kultureller Hotspot und wirtschaftliches Drehkreuz – die Klimakonferenz kommt nach Amazonien

  • Lea Schlude
  • Lesedauer: 9 Min.
In Belém wird viel gebaut im Vorfeld des Weltklimagipfels. Doch dies bleibt Fassade.
In Belém wird viel gebaut im Vorfeld des Weltklimagipfels. Doch dies bleibt Fassade.

Die Praça Batista Campos ist eine grüne Oase in der sonst ziemlich heruntergekommenen Altstadt von Belém im Norden Brasiliens. Die weitläufige Teichanlage ist einer amazonischen Landschaft nachempfunden: Filigran verzierte, gusseiserne Pavillons bieten Schutz vor dem tropischen Nachmittagsregen; Samaúma-Bäume mit ihren hochgewachsenen, schlanken Stämmen ragen zwischen Bambus und Mango-Bäumen hervor. In den Baumkronen tummeln sich abends Hunderte weiße Kraniche.

Der Platz ist ein Denkmal an die Belle Époque von Belém – als Heimat von Kautschukbaronen, Literatinnen und Flaneuren, berühmt für ihre ausufernden Mango-Alleen. Als dann um 1900 der Kautschukboom abflaute und die großen europäischen Einwanderungswellen in den Süden Brasiliens schwappten, verlor die Stadt allmählich an Bedeutung.

Flávia Do Amaral Vieira lädt ein zum Feierabendspaziergang. Die promovierte Umweltrechtlerin entwickelt mit dem zivilgesellschaftlichen »Comitê COP 30« Strategien für Klimagerechtigkeit aus der Perspektive Amazoniens. Die hier im November stattfindende Klimakonferenz löst bei ihr gemischte Gefühle aus: »Wir haben eine einmalige Chance, die Weltöffentlichkeit auf den Notstand in unserer Region aufmerksam zu machen«, sagt die gebürtige Belémerin. »Andererseits ist die COP eine Lobbyveranstaltung für die fossile und die Mineralindustrie.« Sie wirft Gouverneur Helder Barbalho vor, den Gipfel »für eine Turbo-Entwicklung der Region ohne Rücksicht auf die Umwelt« zu instrumentalisieren.

Bei ausländischen NGOs gibt es laut Vieira bisher kaum ein Bewusstsein dafür, dass das Gebiet dicht besiedelt und stark industrialisiert ist. »Den arkadischen Urwald gibt es schon seit dem Kautschukboom nicht mehr.« In der brasilianischen Amazonasregion leben 28 Millionen Menschen, die meisten in Armut. Mit dem Verband »Rede Amazônidas pelo Clima« fordert Vieira eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die sich am Modell der indigenen Forstwirtschaft orientiert. »Wir können nur etwas bewegen, wenn wir eine selbstbestimmte Transformation ermöglichen.«

Belém ist die Hauptstadt von Pará. Der ärmste Bundesstaat Brasiliens, mit einer Fläche 3,5 Mal so groß wie Deutschland, ist zugleich eine der ressourcenreichsten Regionen der Welt. Lizenzen zum Rohstoffabbau liegen in den Händen von multinationalen Konzernen aus Europa, Nordamerika und China. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei umgerechnet 5500 Euro im Jahr – halb so viel wie im industrialisierten Süden Brasiliens. Auch in puncto Waldrodung hält Pará den traurigen Landesrekord. »Illegale Aktivitäten im Regenwald sind zuallererst ein Symptom von sozialer Ungerechtigkeit. Die Menschen brauchen alternative Erwerbsmöglichkeiten, nur dann lässt sich Umweltschutz effektiv durchsetzen«, so Vieira.

Die Auswirkungen des Klimawandels sind bereits dramatisch: Im Oktober 2024 erreichte der Amazonas den tiefsten Pegelstand seit Beginn der Aufzeichnungen. Millionen Menschen waren von Lebensmitteln, Schulen und medizinischer Versorgung abgeschnitten, da Flüsse – meist der einzige Transportweg – nicht mehr befahrbar waren. Vieira ist überzeugt, dass ein Wandel nur durch die Kooperation mit Importländern und nachhaltige Investitionen in öffentliche Infrastruktur gelingen kann.

Dem COP-30-Austragungsort mangelt es nicht an symbolischer Aufladung. Einst stolzer Außenposten der Portugiesen im Kampf um die koloniale Vorherrschaft, ist Belém heute ein kultureller Hotspot mit einem einzigartigen indigenen-afrobrasilianischen Erbe. Die gut erhaltene Stadtfestung wurde 1616 errichtet, um Franzosen und Holländer abzuwehren, aber auch, um den bewaffneten Widerstand der indigenen Bewohner*innen vom Volk der Tupinambá und Pacajá zu brechen. Diese nahmen die Festung 1619 sogar kurzzeitig ein. Die buntbemalte, barocke Altstadt kaschiert die Gräueltaten an der indigenen und afrobrasilianischen Bevölkerung. Die ältesten Spuren einer Hochkultur, Vasen und Urnen mit feinen geometrischen Mustern von der Insel Marajó, sind auf 400 n. Chr. datiert. Sie lassen sich im Festungsmuseum bewundern.

Von der Festungsmauer hat man den besten Blick auf den am Flussufer gelegenen Markt Ver-o-Peso, Großhandel und Feinschmeckerparadies in einem. Hier findet man Obstsorten und Fische jeglicher Art, Liköre und Öle aus amazonischen Pflanzen, Heilkräuter und Reinigungsbäder gegen alle möglichen Übel auf Basis der Umbanda-Religion, die indigenen Animismus mit westafrikanischem und christlichem Spiritismus verbindet.

Amazonas & Auswege

Am 10. November beginnt in Brasilien die 30. Weltklimakonferenz – mitten im Land, wo der Amazonasregenwald in alarmierendem Tempo schwindet. Unsere Serie zeigt, wie rasant die Entwaldung voranschreitet – und welche Lösungen es für nachhaltiges Wirtschaften gibt.

Jeden ersten Sonntag im Monat trifft sich die lokale Szene zum traditionellen Tanz Carimbó, in dem der afroindigene Widerstand der Region fortlebt. Hinter der Band verladen Hafenarbeiter tonnenweise frische Açai-Beeren. Katia Silene serviert an ihrem Stand gebratenen Fisch und dazu eine Schüssel Açai-Mus mit knusprigen Maniok-Sträuseln. Dass das hochnahrhafte Açai in Europa zur Müslizutat mutiert, darüber schüttelt sie nur den Kopf. Belém hat als kulinarischer Hotspot eine Unesco-Auszeichnung – die Zutaten der regionalen Küche spiegeln die einzigartige Biodiversität der Region: Fisch, Maniok, Kokos, Bacurí, Tapereba, Cupuaçu und eben Açai.

Von der Klimakonferenz erhofft sich Dona Silene großen Andrang und guten Umsatz. »Nach der COP werde ich mit meinem Sohn ein paar Tage Ferien machen am Meer, davon träume ich seit Jahren.« Sonst arbeitet sie, seit sie acht Jahre alt ist, von früh bis spät auf dem Markt, sieben Tage die Woche. Bei fünf Tagen Urlaub im Jahr.

Wie viele andere in der Zwei-Millionen-Stadt hofft Silene, dass das historische Zentrum durch die COP 30 wiederbelebt wird. Ganze Straßenzüge sind verfallen, bieten aber Unterschlupf für Menschen, die sonst keine Bleibe haben. Der Crack-Konsum ist hoch. Mittendrin ragen Hochhäuser empor, in die sich die gehobene Mittelschicht zurückgezogen hat. So ist das Innenstadtviertel Nazaré das mit den höchsten Immobilienpreisen und zugleich die gefährlichste Gegend der Stadt. Wer hier Miete zahlt, bewegt sich ausschließlich im Uber oder im eigenen Auto fort. »Wenn ich Bürgermeisterin wäre, hätte ich die vielen jungen Menschen auf der Straße für die COP-Baustellen engagiert und ihnen Wohnungen und Werkstätten zur Verfügung gestellt. Es gibt so viel Leerstand. Aber nichts dergleichen ist geschehen«, sagt Silene.

Der PR-affine Gouverneur Helder Barbalho von der liberalen Partei Movimento Democrático Brasileiro spricht zwar viel von »nachhaltiger Entwicklung«, meint damit aber vor allem Straßen, Brücken und Hafenanlagen, im Eilverfahren durchgesetzt. Mit der Zauberformel »Bioeconomia« wirbt er für eine Rohstoffwirtschaft mit steiler Wachstumsrate und so wenig Umweltauflagen wie möglich. Der Plan umfasst auch nachhaltige Forstwirtschaft, zielt aber vor allem auf Agrobusiness und Mineralabbau.

Seit dem COP-Zuschlag ist die Stadt zugepflastert mit Werbung für Infrastrukturprojekte. Hinter den Plakatwänden verbergen sich Baustellen, die nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Von einer Kampagne über Umweltschutz und konkrete Klimaziele keine Spur. Die Aufklärung oder Beteiligung der Bevölkerung gehört definitiv nicht zu den Zielen der Barbalho-Dynastie, die in Pará seit Jahrzehnten an der Macht ist. Bereits der Vater war Gouverneur, die Mutter ist Bundesabgeordnete, die Ehefrau hat einen hohen Posten im Rechnungshof. Vor einem Jahr kam es zum Eklat: Als die Bundesstaatsanwaltschaft der Regierung von Pará angesichts der Waldrodungsrekorde mit dem Notstand drohte, entließ Barbalho seinen Umweltminister. Den Posten übernahm ein junger Protegé, der sofort zwei blockierte Bauvorhaben freigab, einen Staudamm und eine Straße im Umland von Belém, die mitten durch ein Naturschutzgebiet führt.

Martha Santos schlägt eine der Kokosnüsse auf, die sich in einem Korb neben dem Kiosk stapeln, den sie mit ihrer Lebenspartnerin seit 30 Jahren betreibt. Wie viele Straßenverkäuferinnen und Tagelöhner pendelt sie täglich von einer der 42 Inseln der Metropolregion in die Stadt. Ihr Geschäft gibt das her, was sie zum Leben braucht. Zum Glück sei ihr Stand bisher nur einmal überfallen worden, sagt sie. Sie ist skeptisch, was die COP angeht: Außer kosmetischen Korrekturen entlang der Hauptverkehrsachsen und ein paar Luxushotels in restaurierten historischen Villen rechnet sie mit einem riesigen Berg an Plastikmüll, eine Recyclinganlage in der Region gibt es nicht.

Nur drei öffentliche Gebäude wurden saniert, darunter die historische Markthalle Sâo Bras und die ausgedienten Hafendocks. Eine neue Parkanlage mit einer Länge von fünf Kilometern wird auch das Konferenzzentrum beherbergen. Die Kanalisation und Kläranlage für den Zentrumsbezirk wurde vor zwei Wochen eingeweiht – überall sonst fließt das Abwasser weiterhin ungefiltert in den Rio Guamá.

50 000 Gäste werden zum Gipfel erwartet in einer Stadt, die bisher kaum internationalen Tourismus kennt. Die Preisspekulation um die wenigen Hotelzimmer sorgt bereits für mediale Empörung. Für zusätzliche 15 000 Betten hat die Regierung drei Kreuzfahrtschiffe gechartert – ökologische Schäden sind programmiert. Die Leidtragenden: Bewohner*innen der Vorstädte, deren Existenz vom Ökosystem der Flüsse abhängt. Auch in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum lebt die Mehrheit von Fischerei und Forstwirtschaft im Solobetrieb oder in Kooperativen, die ihre Erträge zu Niedrigpreisen an Zwischenhändler abgeben. Belém liegt am Rand des Amazonasdelta zwischen Regenwald und dem weltweit größten intakten Mangrovengebiet an der Küste.

Multinationale Firmen freuen sich über den Ausbau der Infrastruktur auf Staatskosten – der Investitionsplan der Regierung umfasst umgerechnet 743 Millionen Euro. Erdöl- und Erdgasförderer, Chemie- und Lebensmittelkonzerne wie Nestlé und Coca-Cola, die schon seit einiger Zeit Wasserquellen in der Region aufkaufen, besitzen in Belém eigene Hafenterminals. Kostbare Rohstoffe jeglicher Art und Farbe verlassen täglich den Hafen – aktuellen Schätzungen zufolge auch 40 Prozent des weltweiten Kokain-Umsatzes. Die Amazonas-Route hat erheblich an Bedeutung gewonnen, seit der US-amerikanische »War on Drugs« die Passage durch Mexiko erschwert.

Der Rundgang endet vor dem Wahrzeichen der Stadt, dem purpurroten Teatro da Paz. Es verfügt über ein revolutionäres Belüftungssystem, das den Kautschukbaronen trotz tropischer Temperaturen einen wohltemperierten Operngenuss ermöglichte. Seine Akustik gilt als die beste in ganz Südamerika. Die Innengestaltung mit der eklektischen Mischung portugiesischer und indigener Handwerkskunst erzählt von den Wurzeln der Stadt, aber auch von ihrer unerfüllten Utopie. Auf dem aufwändigen Mosaik im Foyer umranken stilisierte Samaúma-Bäume und Frösche – Glückssymbole der Tupinambá-Kultur – das rot-weiße Kreuz der portugiesischen Krone. Darüber hängt ein imposanter Kristallleuchter, der eigens in Paris nach dem Vorbild amazonischer Seerosen angefertigt wurde. Das Parkett aus hellen und dunklen Tropenhölzern ist verlegt nach dem Muster eines indigenes Friedenssymbols.

Die exquisiten handgeschöpften Schokoladen, die man in der Stadt und beim Bootsausflug auf die Insel Combú probieren kann, kündigen derweil den Wandel an, der Belém bevorsteht. Mit Preisen von umgerechnet 5 Euro sind sie nur für Besucher erschwinglich. Das durchschnittliche Monatsgehalt beträgt in Belém 500 Euro. »Zum ersten Mal werden wir im Amazonas über die Bedeutung des Amazonas diskutieren und nicht in Ägypten, Berlin oder Paris«, sagte Präsident Lula bei der Ernennung. Ob dies einen Unterschied machen wird, bleibt fraglich.

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