Gazastreifen zwischen Krieg und Frieden

Die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas steht auf der Kippe

Trotz Waffenruhe hat Israel am Montag das Flüchtlingslager Bureidsch im Gazastreifen angegriffen. Ein Mann begutachtet die Schäden.
Trotz Waffenruhe hat Israel am Montag das Flüchtlingslager Bureidsch im Gazastreifen angegriffen. Ein Mann begutachtet die Schäden.

War’s das schon mit der Waffenruhe? Das fürchten zumindest viele Palästinenser, die wie in den vergangenen zwei Jahren Angst haben, in ihren Wohnungen oder Zelten von israelischen Bomben getroffen zu werden. 98 Menschen starben seit die Waffen offiziell schweigen.

Ein Armee-Sprecher begründete die Luftangriffe mit einem angeblichen Bruch des Abkommens durch die Hamas. Mit einer Panzerfaust hätten deren Kämpfer aus dem Hinterhalt zwei Soldaten getötet. Das darauffolgende Bombardement Rafahs und des südlichen Gazastreifens soll vor weiteren Angriffen abschrecken. Nun wolle man sich wieder an das Abkommen halten, so die israelische Regierung am Montagmorgen, kurz nach der Ankunft von US-Sondervermittler Steve Witkoff und Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner. Beide hatten den 20-Punkte-Plan, dessen Umsetzung weiterhin in Scharm El-Scheikh verhandelt wird, zusammen mit Ägypten, den Golfstaaten und der Türkei durchgesetzt.

Nun wollen sie Benjamin Netanjahu von der Umsetzung der zweiten Phase überzeugen. Der israelische Premier sitzt zwischen zwei Stühlen und könnte wegen mehrerer Korruptionsverfahren vor Gericht stehen, sollte seine Regierung scheitern. Donald Trump hat ihm mehrmals öffentlich klargemacht, dass der Gaza-Krieg für ihn vorbei ist. Denn spätestens nach dem israelischen Angriff auf Katar, den wichtigsten US-Verbündeten im Nahen Osten, drohen die Herrscher der Golfstaaten damit, sich enger an China und Russland zu binden.

Netanjahus Koalitionspartner, Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich, drohen hingegen mit Rücktritt, sollte der Premier von seiner Forderung abweichen, die Hamas vollständig zu vernichten. »Krieg«, schrieb Smotrich am Wochenende auf der Plattform X. Die Wiederbesiedelung von Gaza durch Siedler sei der nächste Schritt auf dem Weg zum Frieden, beschrieb der Hardliner vor Anhängern seine Vision eines Großisrael.

Israelische Menschenrechtsorganisation wie Betselem werfen Smotrich vor, die mittlerweile täglichen Angriffe von Siedler-Milizen auf palästinensische Dörfer im Westjordanland zu orchestrieren. In der letzten Woche gab es auch in Ramallah, Nablus und unter Olivenbauern bei Hebron mehrere Tote.

Während der stille Krieg im Westjordanland weltweit kaum Beachtung findet, geht es in Gaza um Krieg und Frieden für die ganze Region. Wie gefährlich ein Waffenstillstand mit vielen ungeklärten Fragen ist, zeigt die Lage im benachbarten Libanon. Dort lehnt die schiitische Hisbollah-Miliz ihre vollständige Entwaffnung mit dem Argument ab, dass Israel weiterhin strategische Orte im Süden des Landes besetzt. Die israelische Luftwaffe bombardierte daher am Wochenende Nabatijeh und andere Orte, in die Bewohner Raupen und anderes schweres Räumgerät geschafft hatten, um den Wiederaufbau zu starten.

»Der Vorfall reiht sich ein in ein Muster von Angriffen auf Journalisten.«

ZDF-Korrespondent Thomas Reichart zum Angriff auf eine palästinensische TV-Produktionsfirma

Viele Bewohner im Gazastreifen glauben, dass sie mit einem ähnlichen Szenario leben müssen, das sowohl die Lieferung von Lebensmitteln als auch das Überleben inmitten der Trümmer erschweren wird. Marvin Fürderer von der Welthungerhilfe hält die humanitäre Lage weiterhin für katastrophal: »Hundertausende sind weiterhin von einer Hungersnot bedroht.«

Als Geste des guten Willens will die israelische Regierung am Montag den Grenzübergang Eretz wieder öffnen und Lebensmittellieferungen durchlassen. Doch der von internationalen Hilfsorganisationen genutzte Übergang bei Rafah bleibt geschlossen, ein politisches Druckmittel, das sowohl gegen das Abkommen von Scharm El-Scheikh als auch internationales Recht verstößt. Die israelische Regierung begründet die Schließung mit den 16 immer noch nicht übergebenen toten Geiseln.

Die Hamas bestreitet, am Wochenende östlich der »gelben Linie« in Rafah israelische Soldaten angegriffen zu haben. Palästinensische Journalisten eilten am Sonntag an diese neue und unmarkierte Grenze, an der es bereits in den Vortagen zu zahlreichen Angriffen auf Zivilisten und Soldaten gekommen war. Augenzeugen berichteten vor den Kamerateams ihre Version dieser neuen Gewaltspirale. Demnach habe ein israelischer Bulldozer versehentlich einen Blindgänger zur Explosion gebracht, danach sei die Lage eskaliert.

Da bisher noch keine internationalen Beobachter oder UN-Soldaten im Gazastreifen stationiert sind, gehen ausschließlich lokale Journalisten den Behauptungen beider Seiten nach. Doch sie stehen auch nach Beginn des Waffenstillstands ganz besonders im Visier. Unter den 38 Toten des letzten Wochenendes ist auch ein Mitarbeiter der palästinensischen Produktionsfirma PMP, die für das ZDF und andere internationale TV-Sender arbeitet.

Auch der achtjährige Sohn eines anderen Journalisten starb, als am Sonntagnachmittag um 16.30 Uhr eine Rakete im Garten eines Hauses einschlug, von dem aus das Medienunternehmen Palestine Media Production (PMP) seit Anfang des Jahres Bilder und Live-Interviews in alle Welt schickt. Ein weiterer Mitarbeiter wurde von Splittern verletzt, die das Blech des Übertragungswagens und weiterer Fahrzeuge durchschlagen haben.

Seit mehr als 20 Jahren ist die PMP der palästinensische Partner des ZDF-Studios in Tel Aviv; weitere Kunden sind bekannte europäische und amerikanische Fernsehsender. ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten sprach den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl aus und verurteilte den Angriff. Die israelische Armee kündigte wie so oft zuvor eine Untersuchung an. Der Korrespondent des Senders, Thomas Reichart, glaubt schon jetzt an keinen Zufall: »Der Vorfall reiht sich ein in ein Muster von Angriffen auf Journalisten.«

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